In unserer Reihe „Das humoristische Gelegenheitsgedicht“ präsentieren wir heute ein Stück, das der Gattung „Morgendliche Beinahe-Ergüsse“ zuzuordnen ist:
Ich lieg im Bett und muss aufs Klo.
Nun ist es aber leider so:
Das Klo ist weit.
Der Gang ist kalt.
So lieg ich schon geraume Zeit,
Riskiere einen Harnverhalt
Oder eine Überschwemmung,
Weil von meinem Bett die Trennung
Mir so schrecklick schwere fällt.
Damit das Wehr noch weiter hält,
Erzähl ich mir ein paar Geschichten
Und übe mich derweil im – Dichten.
Nach dem 2. Hauptsatz der Thermokrisendynamik steigt im proportionalen Verhältnis zum Preis fossiler Energieträger die Zahl an Ratschlägen zu deren sparsamer Verwendung. Folglich waren die Medien in den vergangenen Wochen voll von Artikeln, die einem erklärten, wie man „richtig“ heize und „richtig“ lüfte, sodass ich mich schon gefragt habe, wie wir Zeitungs- und Internetleser früher durch die kalte Jahreszeit gekommen sind, ohne solche sicherlich gutgemeinten Belehrungen.
Das „Mäusekrematorium“, mit Kindersicherung und sicherem Kind.
Mich beschäftigt das Thema Heizen ja schon viel länger, als die aktuelle Energiekrise dauert, spätestens seit meine Frau und ich 2005 in ein schlecht isoliertes altes Haus am Lande gezogen sind. Über unsere Erfahrungen des ersten Winters schrieb ich damals einen kleinen Text, der – gedacht für den Hausgebrauch und als Beilage zur Familienchronik – bald in der Schublade verschwand. Wenn ich diesen mehr als 16 Jahre alten Text jetzt wieder hervorziehe und hier präsentiere, so geschieht das deshalb, weil ich selbst beim Wiederlesen überrascht war, wie viel von der aktuellen Krise bereits damals spürbar gewesen ist. Sogar der Oberschurke war schon derselbe …
Dass der Schein trügt, der schöne zumal, wird ihm oft bescheinigt. Manchmal allerdings zu Unrecht. So hieß es früher vom Hundert-Mark-Schein, dieser Schein trüge niemals. Zynisch gesinnte Zeitgenossen sagten gar von diesem Schein, er trüge als einziger nicht. (Das war allerdings vor der Währungsreform. Ob Leute vom Hundert-Euro-Schein dasselbe sagen würden, erscheint mir zweifelhaft; jedenfalls ist mir diese Aussage noch nie zu Ohren gekommen.) Zudem soll der eine oder andere Heilige den Schein seiner Heiligkeit nicht ohne Berechtigung tragen. Es scheint daher, dass der Schein nicht immer trügt, sondern manchmal doch der Wirklichkeit genügt. In solchen Fällen scheint mithin der Schein nur zu trügen, oder anders gesagt: Anscheinend kann es mitunter sein, dass ein Schein nur scheinbar trügt.
Es scheint übrigens Menschen zu geben, die es nicht ertrügen, wenn jemand anstelle von „anscheinend“ das Wort „scheinbar“ gebrauchte. Zu diesen zähle ich nicht, denn ich ertrage diesen immer öfter aufscheinenden Gebrauch klaglos, obwohl mir die Preisgabe der unscheinbaren Unterscheidung von „anscheinend“ und „scheinbar“ keineswegs harmlos erscheint. Dass beide Wörter nicht dasselbe meinen, ist doch offensichtlich. Und wer Schein und Wirklichkeit nicht (mehr) unterscheiden kann, hat augenscheinlich ein Problem, und zwar nicht bloß ein scheinbares.
Wenn man in Österreich eine „Hetz“ hat, dann bedeutet das, dass es lustig zugeht – zumindest für einige der Beteiligten, denn das Wort kommt von „Hatz“, was eine Art der Jagd ist. Eine Hetz war auch die gestrige Sondersitzung des österreichischen Nationalrats nur für einige der Teilnehmenden. Veranlasst hatte die Sitzung mit einer Dringlichen Anfrage der Klubobmann der Freiheitlichen Partei, Herbert Kickl.
Kickl, der sich als Cheftexter seiner Partei um die Pflege des Kalauers auf Wahlplakaten („Daham statt Islam“) und von 2017 bis 2019 als angeblich „Bester Innenminister aller Zeiten“ erfolglos um die Wiederaufstellung einer Polizei-Pferdestaffel verdient gemacht hat, nutzte die Nationalratssitzung zu einem Parforceritt auf seinem liebsten Steckenpferd: dem Schwadronieren vom „Asylanten-Grenzsturm“, der über Österreich hereinbreche.
Tatsächlich ist die Zahl der Menschen, die in Österreich einen Antrag auf Asyl stellen, in den vergangenen Wochen stark gestiegen. Ende August summierte sie sich auf 56.149 seit Anfang des Jahres. Das entspricht fast einer Verdreifachung gegenüber 2021 – mithin ein perfekter Sturm kurz vor der Wahl des österreichischen Bundespräsidenten am Sonntag, bei der dem Kandidaten der FPÖ, einem Herrn Dr. Rosenkranz, nur geringe Chancen prognostiziert werden. Kein Wunder also, dass Kickl die Sturmglocken läutet.
Aber man sollte sich nicht täuschen. Seit Jahr und Tag lebt die FPÖ prächtig davon, sich als Anwalt der Kurzsichtigen, Kleingeistigen und Engherzigen aufzuspielen. Aus der Vielzahl globaler Probleme greift sie eines heraus, bläst es ins Gigantische auf und posaunt herum, Migration sei der fünfte Reiter der Apokalypse. Dabei lasse sie sich ganz einfach „verhindern“: mit Stacheldraht und Blei.
Mit dem alten Lied stoßen Kickl und sein blauer Verein auch heute nicht auf taube Ohren. Zwar wird die steigende Zahl der Asylanträge das fehlende Charisma ihres Kandidaten für das Präsidentenamt nicht aufwiegen. Würde jedoch stattdessen in Österreich am Sonntag der Nationalrat gewählt, erhielte die FPÖ voraussichtlich mehr als zwanzig Prozent der Stimmen.
Um Bedrohungsfantasien, Gewalt und ihre Folgen geht es auch im neuen Buch meines Kollegen, des Historikers Hans Woller: „Jagdszenen aus Niederthann“. Hans erzählt darin eine Geschichte, die sich vor fast genau fünfzig Jahren in Oberbayern ereignet hat, in einem kleinen Weiler der Holledau, dem großen Hopfenanbaugebiet nördlich von München. Da feuerte ein Nebenerwerbslandwirt aus einem Kleinkalibergewehr vier Schüsse auf eine Gruppe von Mädchen ab. Die fünf nach damaligem Recht minderjährigen Mädchen hatten kurz zuvor unerlaubt – aber unbewaffnet – sein Haus betreten und waren bereits wieder am Wegrennen, als der Mann von hinten auf sie abdrückte.
Zwei Kugeln trafen Anka Denisova, 18 Jahre alt und im sechsten Monat schwanger. Die Mutter von zwei kleinen Kindern verblutete an Ort und Stelle. Milena Ivanov überlebte, ebenfalls von zwei Schüssen getroffen, nach einer Notoperation. Sie und die anderen drei Mädchen waren nach Aussage ihrer Verwandten auf der Suche nach Menschen gewesen, die ihnen Lebensmittel verkauften. Alle fünf waren Romnja.
Die zum Tatort gerufenen Polizeibeamten nahmen die Mädchen wegen Verdachts auf Einbruch und Diebstahl fest, verhörten den Todesschützen als Zeugen und rieten ihm, sich zu verstecken, waren sie doch überzeugt, dass ihm nun „Blutrache“ drohte. Seinen Hof stellten sie vorsorglich unter Polizeischutz. Im Dorf ging fortan die Angst um vor der „Zigeuner-Rache“, und die Münchner Abendzeitung titelte „Zigeuner erklären Bauern den Krieg“. In den Augen seiner Nachbarn hatte der Schütze bloß recht getan, indem er sein Eigentum mit der Waffe gegen „diese Weiber“ verteidigte. Der Pfarrer auf der Kanzel sprach den Schützen von jeder Schuld frei, und der Bürgermeister wusste seine Partei hinter sich, wenn er schimpfte, es sei eine „Sauerei“, „dass ein anständiger Gemeindebürger wegziehen muss wegen dem Gesindel“.
So leicht kam der Täter am Ende nicht davon, aber nicht weil die Verwandten der Opfer ihm etwa den „Krieg“ erklärt oder gar „Blutrache“ geschworen hätten, sondern weil ein Münchner Staatsanwalt die bayerische Polizei daran erinnerte, dass das Gesetz auch das Leben von Roma schützt, und weil ein prominenter Rechtsanwalt, Rolf Bossi, sich des Falles öffentlichkeitswirksam annahm.
Die gerichtliche und mediale Auseinandersetzung um die tödlichen Schüsse in Niederthann sollte Jahre dauern und dazu beitragen, das Bild, das viele Deutsche von den Roma, aber auch diese selbst von sich hatten, zu verändern. Seit Jahrhunderten ausgegrenzt, im Dritten Reich zu Hunderttausenden ermordet, nach dem Krieg weiter diskriminiert, begannen deutsche Sinti und Roma, aufgeweckt von den Schüssen in Niederthann, um ihre Bürgerrechte zu kämpfen.
Diese Geschichte, vor fünfzig Jahren geschehen und dennoch erschreckend aktuell, erzählt Hans Woller in seinem Buch eindringlich und mit großer Empathie.
Wie köstlich klingt doch das Flirren der Blätter,
Wenn morgens der Wind durch den Garten streicht
Und hoch in den Zweigen der Birke pfeift der Pirol.
Das Fenster steht offen und ich auf der Matte
Lieg selig da im Shavasana.
Diesen Sommer haben meine Frau und ich uns einen langgehegten Wunsch erfüllt. Während wir die Kinder glücklich mit den Großeltern am malerischen Längsee wussten, sind wir den Kreuzeck-Höhenweg gegangen: vier Tage Wandern über der Baumgrenze, auf schmalen, einsamen Pfaden, über denen Bartgeier ihre Kreise ziehen, mit herzerweiternden Aussichten auf Hohe Tauern, Karnische Alpen und Dolomiten.
Die Kreuzeck-Gruppe, ganz im Westen Kärntens zwischen Möll- und Drautal, gilt als eine der ursprünglichsten Gebirgsgruppen der Ostalpen. Trailrunner durchqueren sie in neun bis zehn Stunden. Sie springen über die Steige, ohne rechts noch links zu schauen. Genau das aber wollten wir gern. Daher haben wir uns in Summe zehnmal so viel Zeit genommen und in den bewirtschafteten Hütten der alpinen Vereine übernachtet.
Von ihnen gibt es in der Kreuzeck-Gruppe nur wenige, und es sind auch eher kleine Hütten, deren Bewirtschaftung kaum rentabel ist. Trotzdem werden sie von engagierten, ja man muss sagen: idealistischen Pächterinnen und Pächtern am Leben erhalten. Ein Segen für die Wanderer, die hier, mehr als 2000 Höhenmeter über Adrianiveau, ein warmes Lager und Nahrung finden, kühles Bier und – Geselligkeit.
Ein Freund von mir geht nicht zuletzt dieser Hüttengeselligkeit wegen in die Berge. Er liebt es, mit Kameraden, die vor einer Stunde noch Fremde waren, eng zusammengedrängt am Tisch zu sitzen, das Glas zu heben und nicht selten über die allerpersönlichsten Dinge zu reden. Ich dagegen muss gestehen, dass ich die Alpenvereinshütten eher utilitaristisch sehe. Ohne sie wäre das Wandern in den Bergen viel unbequemer, müsste man doch viele Kilos zusätzlich schleppen: Essen, Biwakausrüstung, Kocher usw. Und einen Ofen, an dem man nach einem Regentag sein Gewand trocknen könnte, fände man auch nicht so leicht.
Unerwartete Infrastruktur 2400 m ü.d.M.
Umso dankbarer bin ich den Hüttenwirtinnen und Wirten, dass sie ihre oft undankbare Arbeit machen. Den beiden Osttiroler Schwestern etwa, die sich von früh bis spät abrackern, um das Anna-Schutzhaus oberhalb von Lienz zu bewirtschaften. Das massive Holzhaus ist liebevoll renoviert, die Aussicht von der Terrasse phänomenal: Die Lienzer Dolomiten scheinen zum Greifen nah. Und doch müssen die beiden jungen Frauen zusehen, wie sie über die Runden kommen. Ist das Wetter zu heiß, zu kalt oder zu nass, bleiben die Gäste aus.
Kindheitstraum Hüttenwirt
„Man muss Spass haben, sonst kann man diesen Job nicht machen“, sagt Bruno. Lederhose, kariertes Hemd, weiße Haare: Wie das Urbild eines Tirolers sitzt er da, spricht aber breites Berlinerisch. Als Kind kam Bruno im Urlaub mit den Eltern auf die Feldnerhütte und beschloss: Wenn ich alt bin, werde ich hier Hüttenwirt. Inzwischen macht er den Job seit 18 Jahren. „Die wahre Hüttenzeit ist im September. Dann kommen die Einheimischen rauf und die Musi spielt“, schwärmt Bruno. Das Problem sei jedoch, belastbare Mitarbeiter zu finden: „Die halten das alle nicht mehr durch: drei Monate lang drei bis fünf Stunden Schlaf pro Nacht. Nach sechs Wochen knicken die mir ein.“
Später, es ist längst dunkel, sitzt Bruno in der Küche am Funkgerät. Eine Gruppe Wanderer, die sich angekündigt hatte und für die er, weil die Hütte voll ist, draußen noch extra ein Zelt aufgestellt hat, ist verschollen. „Feldnerhütte an Salzkofelhütte, bitte kommen!“ – „Hier Salzkofelhütte, Servus Bruno“, krächzt es aus dem Lautsprecher. „Servus Helmut! Wie viele sind heute von euch weggegangen? Ich warte noch auf zehn Leute. Kommen!“
Die Salzkofelhütte
Nach mehrfachem Hin und Her, „Kommen!“ und „Ende!“ stellt sich heraus, dass die Verschollenen auf der Salzkofelhütte sind. Es sind aber nur zwei. Der Verbleib der übrigen acht bleibt ein Rätsel und das Zelt, das Bruno extra aufgebaut hat, leer.
Während Bruno vor sich hinschimpft, klingt Helmuts Stimme entspannt aus dem Äther. Ihn und seine Frau Barbara kennen wir bereits vom Vortag, als wir auf der Salzkofelhütte eingekehrt sind. Barbaras und Helmuts Kinder sind aus dem Haus, ihr Haus ist dauerhaft vermietet. „Wir sind jetzt Nomaden“, sagt Helmut. Im Sommer lebt das Paar auf der Hütte, kocht indische Linsen und „Spaghetti Veganese“ für Wanderer. Und im Winter? „Da sind wir im globalen Süden, wo wir verschiedene Sozialprojekte betreiben.“
Eine Art Sozialprojekt ist auch die Hugo-Gerbers-Hütte, auf 2400 Metern die höchstgelegene am Kreuzeck-Höhenweg. 20 Matratzenlager, kein fließend Wasser, Plumpsklo, die kleine PV-Anlage temporär außer Betrieb. Morgen zehn Uhr soll der Hubschrauber kommen, um die Grundversorgung zu sichern: 40 Kisten Bier. Alles Weitere muss vom letzten Parkplatz im Tal zu Fuß heraufgeschleppt werden, zwei Stunden steil bergauf.
Die Hugo-Gerbers-Hütte hat keinen richtigen Wirt. Sie wird von Freiwilligen bewirtschaftet. „Die meisten von uns kommen schon seit Jahren, nehmen sich extra Urlaub“, erklärt Niki, der schon als Säugling, im Tragetuch, erstmals hier oben war und sich seither mit dem Ort verbunden fühlt.
Matratzen unterm Sternenzelt
Umringt von gerölligen Gipfeln und Graten steht die Hütte unweit eines Baches auf einer breiten, grasbewachsenen Geländestufe. Unter der Fahne mit dem Alpenvereinswappen liegen zwei Doppelmatratzen mit Gummibezügen, für Frostresistente, die unterm Sternenzelt nächtigen wollen. Doch auch am Tag lohnt der Blick: Er reicht tief bis ins Drautal, über die bewaldeten, runden Rücken der Gailtaler Alpen auf die Zacken des Karnischen Kamms mit der Hohen Warte im Zentrum.
Erfrischende Dusche mit Aussicht bei der Hugo-Gerbers-Hütte
Niki leitet ein Team von sechs jungen Leuten, die er eingeladen hat, eine Woche mit ihm die Hütte zu betreuen: Wasserkanister auffüllen, Holz hacken, Gäste mit Getränken versorgen, sie in den Gebrauch des Plumpsklos einweisen, Lagerplätze zuteilen, Essen auf dem Holzherd kochen und servieren. Heute abend soll es eine „Hüttenschnitte“ geben, die sich als schmackhafte Pizza entpuppt. Wir dürfen reinhauen, bis wir platzen, denn Niki und sein Team haben für 20 Gäste gekocht, wir sind aber nur vier. Drei tschechische Mädels bereiten ihre mitgebrachte Mahlzeit draußen am Gaskocher zu. Die übrigen Plätze in der Gaststube wie auch im Lager bleiben leer. Wieder eine große Gruppe, die ihr Kommen angekündigt hat, aber nicht erschienen ist.
„Planen ist schwierig geworden“, sagt Niki, nachdem er vom Hüttengipfel abgestiegen ist, wo er in der Dämmerung vergeblich nach der Phantom-Wandergruppe Ausschau gehalten hat. „Schade. Wenn sie wenigstens Bescheid gegeben hätten! Gestern noch habe ich ein paar Leuten für heute absagen müssen, weil die Hütte komlett ausreserviert war.“
Sonnenuntergang hinter Schobergruppe und Deferreger Alpen
Wir nicken, auch wenn wir vom Nichtkommen der anderen profitieren: mehr Pizza, mehr Platz im Lager, keine Schlange vor dem Plumpsklo. Und als wir in der Früh zur nächsten Etappe aufbrechen, sind wir die einzigen, die sich auf den Weg machen. Stundenlang begegnen wir keiner Menschenseele, haben die ganze große Weite der Berge für uns.
Als wäre das nicht schon Ärger genug, weigerte sich die Bahn auch, uns das Ticket für den verpassten Nachtzug zu erstatten. Es hatte immerhin 299 Euro gekostet. Weil wir wissen wollten, ob das rechtens ist, wandten wir uns an eine Rechtsanwältin, die für uns Klage einreichte. Nach dem gestrigen Gerichtstermin sind wir nur ein bisschen schlauer.
Das Bezirksgericht gab nämlich dem Einwand des Anwalts der Deutschen Bahn statt, dass der Fall nicht vor einem österreichischen Gericht verhandelt werden könne. Zwar steht in der EU-“Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“, dass Verbraucher in ihrem Wohnsitzland Klage gegen Vertragspartner führen können, wenn diese dort eine Niederlassung haben. Das hat die Deutsche Bahn. ABER: In der Verordnung steht auch, dass dieses Prinzip „nicht auf Beförderungsverträge … anzuwenden“ sei.
Der Richter erklärte bedauernd, diese Klausel sei zum Vorteil der großen Flug- und Bahngesellschaften in die Verordnung eingefügt worden. Dagegen könne er nicht entscheiden. Das müsse auf EU-Ebene geändert werden. Ich hatte den Eindruck, dass der Richter uns gern Recht gegeben hätte. Selbst dem Anwalt der Bahn schien seine Rolle unangenehm zu sein, aber der gute Mann musste ja seinen Job machen. Und er machte ihn so gut, dass der eigentliche Inhalt unserer Klage gar nicht erst zur Verhandlung kam.
Jetzt verstehe ich besser, warum manche Leute meinen, dass die EU nicht die Interessen ihrer Bürger, sondern der Konzerne vertritt.
Hinterher fragte mich der Richter noch, ob ich weiterhin mit der Bahn führe. Ich zuckte mit den Achseln. Was bleibt einem anderes übrig, wenn man nicht auf Flugzeug oder Auto umsteigen will (oder kann)?
Wobei: Ein Freund von mir ist neulich mit seiner Tochter von München nach Peine zu seiner Mutter gefahren – mit dem Tandem. Sechs Tage waren sie unterwegs. Liegt hier womöglich die Zukunft der Mobilität? Ist zwar nicht so schnell, aber irgendwie reeller als von einer Bahn stehen gelassen zu werden, die die Verantwortung für die eigene Inkompetenz mit Hilfe von EU-Recht auf ihre Kunden abschiebt.
War ich neulich doch mal wieder im ersten Bezirk. Eine Redakteurin von Radio Stephansdom hatte mich ins Studio eingeladen, um über Roald Amundsen zu sprechen. Am 16. Juli jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag des berühmten Polarforschers. Er spielt eine Hauptrolle in meinem Buch „Das Eis und der Tod“ .
Roald Amundsen von ungewohnter Seite. Die Kolorierung erfolgte nachträglich. Bild: Noxstar8, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Alle Welt kennt Amundsen als „Bezwinger“ des Südpols, Wikipedia ihn auch als Kapitän des ersten Schiffes, das die Nordwestpassage durchfuhr, als Expeditonsleiter beim ersten Luftschiff-Flug über den Nordpol und Vollbringer weiterer polarer Heldentaten. Abseits solcher Bravourstücke war über den Menschen Roald Amundsen lange Zeit wenig bekannt. Der Entdecker unerforschter Landstriche war ein Meister im Verbergen seines Innenlebens.
Erst Tor Bomann-Larsen gelang es 1995 mit seiner grandiosen Biographie (deutsch 2007), die unkartierten Eiswüsten im inneren Kontinent des Roald Amundsen zu durchmessen. Bomann-Larsen zeigte auch, welchen bedeutenden Anteil der Geschäftsmann Leon Amundsen an den Erfolgen seines jüngeren Bruders Roald hatte – was diesen nicht daran hinderte, später mit Leon zu brechen und ihn öffentlich zum „Verräter“ zu erklären.
Seine Kurzsichtigkeit verstand der berühmte Polarforscher zeitlebens zu verheimlichen. Bild: SDASM Archives, Public domain, via Wikimedia Commons
Roald Amundsen war zeitlebens viel unterwegs, vor allem mit Dampfer und Eisenbahn auf seinen Vortragstourneen, während er seine Polarreisen vorzugsweise mit Ski, Hundeschlitten, Segel- und Motorschiffen bestritt. Später entdeckte er das Fliegen für sich, allerdings weniger als Pilot denn als (prominenter) Passagier.
Die Frage des Transportmittels stellte sich auch mir, als ich in den ersten Wiener Bezirk fuhr. In die Stadt mit der S-Bahn, so viel war klar. Aber wie weiter? Bislang hatte ich stets das „Citybike“ genutzt, aber das ist von der Stadt Wien demontiert worden. Das Nachfolge-System verlangt ein Smartphone, das ich nicht habe.
Deutschordenshaus, Wien Bild: Manfred Werner – Tsui, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Also das eigene Rad in den Zug geladen und damit bei prächtigem Sonnenschein vom Praterstern in den ersten Bezirk geradelt, bis zum Deutschordenshaus, wo unterm Dach Radio Stephansdom seine Studios hat. Im malerischen, gepflasterten Innenhof machte ein Mann sich mit dem Kärcher zu schaffen. Ringsum parkten Autos.
Wo man hier sein Rad abstellen könne, fragte ich den Mann. „Bitte nicht im Hof!“, rief er. „Wo denn dann?“, fragte ich. „Woher soll ich das wissen“, antwortete er und warf seinen Kärcher an. Nach einigem Suchen fand ich zwei Ecken weiter an der Straße einen freien Laternenmast. Im Studio angekommen, erzählte ich der Redakteurin von meiner Suche nach einem Radabstellplatz. „Oje, heikles Thema“, meinte sie: „Übrigens schon seit Jahrzehnten …“
Meine Arbeit ist nicht
das Wählen von Wörtern und
daraus Ketten machen
an einem roten
Faden
Meine Arbeit ist
das Säubern des Ofens
Ascheflocken die
in der Luft
tanzen
Meine Arbeit ist
das Spalten des Holzes
der hohle Klang wenn
das Scheit
birst
Meine Arbeit am
Ofen: anheizen
Nachlegen stündlich
Tag für
Tag
Der Ofen und ich
Er kennt seinen Herrn
Ich bediene ihn
Er dient
mir
Meiner Arbeit Lohn
Wärme deren
Preis nicht
Krieg
ist
Ein paar Tage vor dem Angriff der russischen Staatsgewalt auf die Ukraine hatte ich ein Gedicht geschrieben, das ich an dieser Stelle veröffentlichen wollte, und zwar ein Sonett. So ein Sonett ist die Fingerübung eines Berufsschreibers, eine Tüftelei mit Worten, über deren Gelingen der Autor sich freut, sodass er sie gern herzeigt, ohne ihr jedoch größere Bedeutung zuzumessen – selbst wenn das Thema nur scheinbar unbedeutend ist. Das Sonett handelt nämlich von meinen Freunden, den Meisen. Aber als der Krieg ausbrach, erschien all das, die Meisen, das Sonett, mein literarischer Bastlerstolz, schlagartig bedeutungslos. Inzwischen denke ich, dass ich damit zumindest den Meisen Unrecht getan habe.
Gewalt macht mir seit jeher Angst, nicht zuletzt dann, wenn in mir drin die Wut hochkocht. Die Gefühle auszuhalten, die dieser Krieg beim vermeintlich abseits stehenden Zuschauer auslöst, Angst, Trauer, Zerknirschung und hilfloser Zorn, kostet Kraft. Dabei sollte ich mich als Historiker nicht wundern. Zivilisation und Verbrechen sind zwei Seiten derselben Medaille. Seit 1989 – dem Jahr, in dem ich volljährig wurde – herrschte auf der Erde immer irgendwo Krieg: von Irak, Jugoslawien und Tschetschenien über Kosovo, Afghanistan, wieder Irak, Jemen und Syrien bis zu den „Drogenkriegen“ in Mexiko und auf den Philippinen, um nur jene zu nennen, die mir ad hoc einfallen. Und doch war der russische Angriff auf die Ukraine ein Schock, ein körperlich empfundener Schock, den ich lange nicht werde verarbeitet haben. Tua res agitur, paries cum proximus ardet, haben wir seinerzeit in der Schule gelernt: Deine Sache steht auf dem Spiel, wenn die Nachbarwand brennt.
Bild: Martin Kunz, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Что делать? Was tun, wenn es brennt? Die Menschen in der Ukraine zeigen es uns gerade: Sie lassen sich nicht zu Opfern machen. Zu den Dingen, die wir tun können – Geflüchteten helfen, Energie sparen, für Demokratie und Menschenrechte eintreten, gemeinsam mit unseren Kindern Gewaltfreiheit üben –, gehört auch, sich weder von der Gewalt noch ihrer Androhung einschüchtern zu lassen. Und für Autoren gehört dazu, weiter zu schreiben und zu publizieren. Das sind wir auch den Meisen schuldig. Darum:
Sei mir gegrüßt, befreund’te Schar der Meisen!
Wie war der Garten eben noch so leer,
doch nun ein wildes Schwirren hin und her,
durchs Fenster trillern eure munt’ren Weisen.
Man kann euch Meisen nicht genügend preisen.
Der winterliche Garten läge sehr
verödet da, erstarrt, kämt ihr nicht mehr,
um ihn der Winterstarre zu entreißen.
Ein gelbes, blaues, weißes, schwarzes Flattern –
zwei kurze Beinchen reichen euch zum Klettern.
Ihr macht nicht Halt vor Zäunen oder Gattern.
Ihr turnt herum auf Ästen bar von Blättern.
Und wenn im Wind die Fahnen klirrend rattern,
dann dank ich euch als meines Tages Rettern.