Wie köstlich klingt doch das Flirren der Blätter,
Wenn morgens der Wind durch den Garten streicht
Und hoch in den Zweigen der Birke pfeift der Pirol.
Das Fenster steht offen und ich auf der Matte
Lieg selig da im Shavasana.
Diesen Sommer haben meine Frau und ich uns einen langgehegten Wunsch erfüllt. Während wir die Kinder glücklich mit den Großeltern am malerischen Längsee wussten, sind wir den Kreuzeck-Höhenweg gegangen: vier Tage Wandern über der Baumgrenze, auf schmalen, einsamen Pfaden, über denen Bartgeier ihre Kreise ziehen, mit herzerweiternden Aussichten auf Hohe Tauern, Karnische Alpen und Dolomiten.
Die Kreuzeck-Gruppe, ganz im Westen Kärntens zwischen Möll- und Drautal, gilt als eine der ursprünglichsten Gebirgsgruppen der Ostalpen. Trailrunner durchqueren sie in neun bis zehn Stunden. Sie springen über die Steige, ohne rechts noch links zu schauen. Genau das aber wollten wir gern. Daher haben wir uns in Summe zehnmal so viel Zeit genommen und in den bewirtschafteten Hütten der alpinen Vereine übernachtet.
Von ihnen gibt es in der Kreuzeck-Gruppe nur wenige, und es sind auch eher kleine Hütten, deren Bewirtschaftung kaum rentabel ist. Trotzdem werden sie von engagierten, ja man muss sagen: idealistischen Pächterinnen und Pächtern am Leben erhalten. Ein Segen für die Wanderer, die hier, mehr als 2000 Höhenmeter über Adrianiveau, ein warmes Lager und Nahrung finden, kühles Bier und – Geselligkeit.
Ein Freund von mir geht nicht zuletzt dieser Hüttengeselligkeit wegen in die Berge. Er liebt es, mit Kameraden, die vor einer Stunde noch Fremde waren, eng zusammengedrängt am Tisch zu sitzen, das Glas zu heben und nicht selten über die allerpersönlichsten Dinge zu reden. Ich dagegen muss gestehen, dass ich die Alpenvereinshütten eher utilitaristisch sehe. Ohne sie wäre das Wandern in den Bergen viel unbequemer, müsste man doch viele Kilos zusätzlich schleppen: Essen, Biwakausrüstung, Kocher usw. Und einen Ofen, an dem man nach einem Regentag sein Gewand trocknen könnte, fände man auch nicht so leicht.
Umso dankbarer bin ich den Hüttenwirtinnen und Wirten, dass sie ihre oft undankbare Arbeit machen. Den beiden Osttiroler Schwestern etwa, die sich von früh bis spät abrackern, um das Anna-Schutzhaus oberhalb von Lienz zu bewirtschaften. Das massive Holzhaus ist liebevoll renoviert, die Aussicht von der Terrasse phänomenal: Die Lienzer Dolomiten scheinen zum Greifen nah. Und doch müssen die beiden jungen Frauen zusehen, wie sie über die Runden kommen. Ist das Wetter zu heiß, zu kalt oder zu nass, bleiben die Gäste aus.
Kindheitstraum Hüttenwirt
„Man muss Spass haben, sonst kann man diesen Job nicht machen“, sagt Bruno. Lederhose, kariertes Hemd, weiße Haare: Wie das Urbild eines Tirolers sitzt er da, spricht aber breites Berlinerisch. Als Kind kam Bruno im Urlaub mit den Eltern auf die Feldnerhütte und beschloss: Wenn ich alt bin, werde ich hier Hüttenwirt. Inzwischen macht er den Job seit 18 Jahren. „Die wahre Hüttenzeit ist im September. Dann kommen die Einheimischen rauf und die Musi spielt“, schwärmt Bruno. Das Problem sei jedoch, belastbare Mitarbeiter zu finden: „Die halten das alle nicht mehr durch: drei Monate lang drei bis fünf Stunden Schlaf pro Nacht. Nach sechs Wochen knicken die mir ein.“
Später, es ist längst dunkel, sitzt Bruno in der Küche am Funkgerät. Eine Gruppe Wanderer, die sich angekündigt hatte und für die er, weil die Hütte voll ist, draußen noch extra ein Zelt aufgestellt hat, ist verschollen. „Feldnerhütte an Salzkofelhütte, bitte kommen!“ – „Hier Salzkofelhütte, Servus Bruno“, krächzt es aus dem Lautsprecher. „Servus Helmut! Wie viele sind heute von euch weggegangen? Ich warte noch auf zehn Leute. Kommen!“
Nach mehrfachem Hin und Her, „Kommen!“ und „Ende!“ stellt sich heraus, dass die Verschollenen auf der Salzkofelhütte sind. Es sind aber nur zwei. Der Verbleib der übrigen acht bleibt ein Rätsel und das Zelt, das Bruno extra aufgebaut hat, leer.
Während Bruno vor sich hinschimpft, klingt Helmuts Stimme entspannt aus dem Äther. Ihn und seine Frau Barbara kennen wir bereits vom Vortag, als wir auf der Salzkofelhütte eingekehrt sind. Barbaras und Helmuts Kinder sind aus dem Haus, ihr Haus ist dauerhaft vermietet. „Wir sind jetzt Nomaden“, sagt Helmut. Im Sommer lebt das Paar auf der Hütte, kocht indische Linsen und „Spaghetti Veganese“ für Wanderer. Und im Winter? „Da sind wir im globalen Süden, wo wir verschiedene Sozialprojekte betreiben.“
Eine Art Sozialprojekt ist auch die Hugo-Gerbers-Hütte, auf 2400 Metern die höchstgelegene am Kreuzeck-Höhenweg. 20 Matratzenlager, kein fließend Wasser, Plumpsklo, die kleine PV-Anlage temporär außer Betrieb. Morgen zehn Uhr soll der Hubschrauber kommen, um die Grundversorgung zu sichern: 40 Kisten Bier. Alles Weitere muss vom letzten Parkplatz im Tal zu Fuß heraufgeschleppt werden, zwei Stunden steil bergauf.
Die Hugo-Gerbers-Hütte hat keinen richtigen Wirt. Sie wird von Freiwilligen bewirtschaftet. „Die meisten von uns kommen schon seit Jahren, nehmen sich extra Urlaub“, erklärt Niki, der schon als Säugling, im Tragetuch, erstmals hier oben war und sich seither mit dem Ort verbunden fühlt.
Matratzen unterm Sternenzelt
Umringt von gerölligen Gipfeln und Graten steht die Hütte unweit eines Baches auf einer breiten, grasbewachsenen Geländestufe. Unter der Fahne mit dem Alpenvereinswappen liegen zwei Doppelmatratzen mit Gummibezügen, für Frostresistente, die unterm Sternenzelt nächtigen wollen. Doch auch am Tag lohnt der Blick: Er reicht tief bis ins Drautal, über die bewaldeten, runden Rücken der Gailtaler Alpen auf die Zacken des Karnischen Kamms mit der Hohen Warte im Zentrum.
Niki leitet ein Team von sechs jungen Leuten, die er eingeladen hat, eine Woche mit ihm die Hütte zu betreuen: Wasserkanister auffüllen, Holz hacken, Gäste mit Getränken versorgen, sie in den Gebrauch des Plumpsklos einweisen, Lagerplätze zuteilen, Essen auf dem Holzherd kochen und servieren. Heute abend soll es eine „Hüttenschnitte“ geben, die sich als schmackhafte Pizza entpuppt. Wir dürfen reinhauen, bis wir platzen, denn Niki und sein Team haben für 20 Gäste gekocht, wir sind aber nur vier. Drei tschechische Mädels bereiten ihre mitgebrachte Mahlzeit draußen am Gaskocher zu. Die übrigen Plätze in der Gaststube wie auch im Lager bleiben leer. Wieder eine große Gruppe, die ihr Kommen angekündigt hat, aber nicht erschienen ist.
„Planen ist schwierig geworden“, sagt Niki, nachdem er vom Hüttengipfel abgestiegen ist, wo er in der Dämmerung vergeblich nach der Phantom-Wandergruppe Ausschau gehalten hat. „Schade. Wenn sie wenigstens Bescheid gegeben hätten! Gestern noch habe ich ein paar Leuten für heute absagen müssen, weil die Hütte komlett ausreserviert war.“
Wir nicken, auch wenn wir vom Nichtkommen der anderen profitieren: mehr Pizza, mehr Platz im Lager, keine Schlange vor dem Plumpsklo. Und als wir in der Früh zur nächsten Etappe aufbrechen, sind wir die einzigen, die sich auf den Weg machen. Stundenlang begegnen wir keiner Menschenseele, haben die ganze große Weite der Berge für uns.
Als wäre das nicht schon Ärger genug, weigerte sich die Bahn auch, uns das Ticket für den verpassten Nachtzug zu erstatten. Es hatte immerhin 299 Euro gekostet. Weil wir wissen wollten, ob das rechtens ist, wandten wir uns an eine Rechtsanwältin, die für uns Klage einreichte. Nach dem gestrigen Gerichtstermin sind wir nur ein bisschen schlauer.
Das Bezirksgericht gab nämlich dem Einwand des Anwalts der Deutschen Bahn statt, dass der Fall nicht vor einem österreichischen Gericht verhandelt werden könne. Zwar steht in der EU-“Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“, dass Verbraucher in ihrem Wohnsitzland Klage gegen Vertragspartner führen können, wenn diese dort eine Niederlassung haben. Das hat die Deutsche Bahn. ABER: In der Verordnung steht auch, dass dieses Prinzip „nicht auf Beförderungsverträge … anzuwenden“ sei.
Der Richter erklärte bedauernd, diese Klausel sei zum Vorteil der großen Flug- und Bahngesellschaften in die Verordnung eingefügt worden. Dagegen könne er nicht entscheiden. Das müsse auf EU-Ebene geändert werden. Ich hatte den Eindruck, dass der Richter uns gern Recht gegeben hätte. Selbst dem Anwalt der Bahn schien seine Rolle unangenehm zu sein, aber der gute Mann musste ja seinen Job machen. Und er machte ihn so gut, dass der eigentliche Inhalt unserer Klage gar nicht erst zur Verhandlung kam.
Jetzt verstehe ich besser, warum manche Leute meinen, dass die EU nicht die Interessen ihrer Bürger, sondern der Konzerne vertritt.
Hinterher fragte mich der Richter noch, ob ich weiterhin mit der Bahn führe. Ich zuckte mit den Achseln. Was bleibt einem anderes übrig, wenn man nicht auf Flugzeug oder Auto umsteigen will (oder kann)?
Wobei: Ein Freund von mir ist neulich mit seiner Tochter von München nach Peine zu seiner Mutter gefahren – mit dem Tandem. Sechs Tage waren sie unterwegs. Liegt hier womöglich die Zukunft der Mobilität? Ist zwar nicht so schnell, aber irgendwie reeller als von einer Bahn stehen gelassen zu werden, die die Verantwortung für die eigene Inkompetenz mit Hilfe von EU-Recht auf ihre Kunden abschiebt.
War ich neulich doch mal wieder im ersten Bezirk. Eine Redakteurin von Radio Stephansdom hatte mich ins Studio eingeladen, um über Roald Amundsen zu sprechen. Am 16. Juli jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag des berühmten Polarforschers. Er spielt eine Hauptrolle in meinem Buch „Das Eis und der Tod“ .
Alle Welt kennt Amundsen als „Bezwinger“ des Südpols, Wikipedia ihn auch als Kapitän des ersten Schiffes, das die Nordwestpassage durchfuhr, als Expeditonsleiter beim ersten Luftschiff-Flug über den Nordpol und Vollbringer weiterer polarer Heldentaten. Abseits solcher Bravourstücke war über den Menschen Roald Amundsen lange Zeit wenig bekannt. Der Entdecker unerforschter Landstriche war ein Meister im Verbergen seines Innenlebens.
Erst Tor Bomann-Larsen gelang es 1995 mit seiner grandiosen Biographie (deutsch 2007), die unkartierten Eiswüsten im inneren Kontinent des Roald Amundsen zu durchmessen. Bomann-Larsen zeigte auch, welchen bedeutenden Anteil der Geschäftsmann Leon Amundsen an den Erfolgen seines jüngeren Bruders Roald hatte – was diesen nicht daran hinderte, später mit Leon zu brechen und ihn öffentlich zum „Verräter“ zu erklären.
Roald Amundsen war zeitlebens viel unterwegs, vor allem mit Dampfer und Eisenbahn auf seinen Vortragstourneen, während er seine Polarreisen vorzugsweise mit Ski, Hundeschlitten, Segel- und Motorschiffen bestritt. Später entdeckte er das Fliegen für sich, allerdings weniger als Pilot denn als (prominenter) Passagier.
Die Frage des Transportmittels stellte sich auch mir, als ich in den ersten Wiener Bezirk fuhr. In die Stadt mit der S-Bahn, so viel war klar. Aber wie weiter? Bislang hatte ich stets das „Citybike“ genutzt, aber das ist von der Stadt Wien demontiert worden. Das Nachfolge-System verlangt ein Smartphone, das ich nicht habe.
Also das eigene Rad in den Zug geladen und damit bei prächtigem Sonnenschein vom Praterstern in den ersten Bezirk geradelt, bis zum Deutschordenshaus, wo unterm Dach Radio Stephansdom seine Studios hat. Im malerischen, gepflasterten Innenhof machte ein Mann sich mit dem Kärcher zu schaffen. Ringsum parkten Autos.
Wo man hier sein Rad abstellen könne, fragte ich den Mann. „Bitte nicht im Hof!“, rief er. „Wo denn dann?“, fragte ich. „Woher soll ich das wissen“, antwortete er und warf seinen Kärcher an. Nach einigem Suchen fand ich zwei Ecken weiter an der Straße einen freien Laternenmast. Im Studio angekommen, erzählte ich der Redakteurin von meiner Suche nach einem Radabstellplatz. „Oje, heikles Thema“, meinte sie: „Übrigens schon seit Jahrzehnten …“
Meine Arbeit ist nicht
das Wählen von Wörtern und
daraus Ketten machen
an einem roten
Faden
Meine Arbeit ist
das Säubern des Ofens
Ascheflocken die
in der Luft
tanzen
Meine Arbeit ist
das Spalten des Holzes
der hohle Klang wenn
das Scheit
birst
Meine Arbeit am
Ofen: anheizen
Nachlegen stündlich
Tag für
Tag
Der Ofen und ich
Er kennt seinen Herrn
Ich bediene ihn
Er dient
mir
Meiner Arbeit Lohn
Wärme deren
Preis nicht
Krieg
ist
Ein paar Tage vor dem Angriff der russischen Staatsgewalt auf die Ukraine hatte ich ein Gedicht geschrieben, das ich an dieser Stelle veröffentlichen wollte, und zwar ein Sonett. So ein Sonett ist die Fingerübung eines Berufsschreibers, eine Tüftelei mit Worten, über deren Gelingen der Autor sich freut, sodass er sie gern herzeigt, ohne ihr jedoch größere Bedeutung zuzumessen – selbst wenn das Thema nur scheinbar unbedeutend ist. Das Sonett handelt nämlich von meinen Freunden, den Meisen. Aber als der Krieg ausbrach, erschien all das, die Meisen, das Sonett, mein literarischer Bastlerstolz, schlagartig bedeutungslos. Inzwischen denke ich, dass ich damit zumindest den Meisen Unrecht getan habe.
Gewalt macht mir seit jeher Angst, nicht zuletzt dann, wenn in mir drin die Wut hochkocht. Die Gefühle auszuhalten, die dieser Krieg beim vermeintlich abseits stehenden Zuschauer auslöst, Angst, Trauer, Zerknirschung und hilfloser Zorn, kostet Kraft. Dabei sollte ich mich als Historiker nicht wundern. Zivilisation und Verbrechen sind zwei Seiten derselben Medaille. Seit 1989 – dem Jahr, in dem ich volljährig wurde – herrschte auf der Erde immer irgendwo Krieg: von Irak, Jugoslawien und Tschetschenien über Kosovo, Afghanistan, wieder Irak, Jemen und Syrien bis zu den „Drogenkriegen“ in Mexiko und auf den Philippinen, um nur jene zu nennen, die mir ad hoc einfallen. Und doch war der russische Angriff auf die Ukraine ein Schock, ein körperlich empfundener Schock, den ich lange nicht werde verarbeitet haben. Tua res agitur, paries cum proximus ardet, haben wir seinerzeit in der Schule gelernt: Deine Sache steht auf dem Spiel, wenn die Nachbarwand brennt.
Что делать? Was tun, wenn es brennt? Die Menschen in der Ukraine zeigen es uns gerade: Sie lassen sich nicht zu Opfern machen. Zu den Dingen, die wir tun können – Geflüchteten helfen, Energie sparen, für Demokratie und Menschenrechte eintreten, gemeinsam mit unseren Kindern Gewaltfreiheit üben –, gehört auch, sich weder von der Gewalt noch ihrer Androhung einschüchtern zu lassen. Und für Autoren gehört dazu, weiter zu schreiben und zu publizieren. Das sind wir auch den Meisen schuldig. Darum:
Sei mir gegrüßt, befreund’te Schar der Meisen!
Wie war der Garten eben noch so leer,
doch nun ein wildes Schwirren hin und her,
durchs Fenster trillern eure munt’ren Weisen.
Man kann euch Meisen nicht genügend preisen.
Der winterliche Garten läge sehr
verödet da, erstarrt, kämt ihr nicht mehr,
um ihn der Winterstarre zu entreißen.
Ein gelbes, blaues, weißes, schwarzes Flattern –
zwei kurze Beinchen reichen euch zum Klettern.
Ihr macht nicht Halt vor Zäunen oder Gattern.
Ihr turnt herum auf Ästen bar von Blättern.
Und wenn im Wind die Fahnen klirrend rattern,
dann dank ich euch als meines Tages Rettern.
Unsere Tochter lernt seit Beginn dieses Schuljahrs Russisch. Das Curriculum ihrer Schule verlangt eine dritte Fremdsprache. Französisch und Russisch standen zur Wahl. Ich glaube, dass sie sich aus Neugier für Letzteres entschieden hat. Russisch war für sie exotischer und damit interessanter.
Als der Kurs zusammentrat, zeigte sich, dass nur drei von 15 Schülerinnen und Schülern als Muttersprache Deutsch hatten. Die anderen sind mit zumeist slawischen Sprachen aufgewachsen, einzelne mit Russisch. Auch die Lehrerin ist Russin, im übrigen eine liebe Frau und engagierte Pädagogin, sodass das neue Fach unserer Tochter bald Spaß zu machen begann.
Doch die Freude ist mittlerweile verflogen. Das liegt weder an der Lehrerin noch an der Klasse oder etwa schulischen Misserfolgen. Vor ein paar Tagen sagte unsere Tochter beim Abendbrot, dass sie keinen Sinne darin sehe, die Sprache eines Landes zu lernen, das „solche Sachen macht“. Mit „solchen Sachen“ meinte sie den massenhaften Aufmarsch russischen Militärs an den Grenzen zur Ukraine. Was auch immer der Grund für diesen Aufmarsch ist, die russische Militärmaschinerie wirkt bedrohlich und gibt alles, nur kein sympathisches Bild ab.
Wir haben unserer Tochter gesagt, dass man unterscheiden müsse zwischen dem russischen Volk und der russischen Regierung. Was auch immer die Regierung im Sinn habe, die meisten Menschen in Russland wollten so wie wir in Frieden leben. Es seien nach unserer Erfahrung sehr herzliche, gastfreundliche Menschen, und es lohne bestimmt, ihre Sprache zu lernen.
Aber warum, fragte unsere Tochter, würden die Menschen in Russland dann zulassen, dass ihre Regierung andere Staaten bedroht? Warum würden die russischen Soldaten tun, was ihre Regierung sagt?
Darauf wussten wir keine rechte Antwort. Wir fragten unsere Tochter, ob sie schon im Unterricht über die Situation gesprochen hätten. Sie sagte, nur mit ihren Freundinnen, aber nicht mit der ganzen Klasse. Sie habe den Eindruck, dass die Lehrerin vermeide, über die politische Lage in Russland zu reden, vermutlichaus Angst, dass die Diskussioneskalieren könnte. Einige in der Klasse kämen nämlich aus Polen und der Ukraine, andere aus Russland, unddie Stimmung sei ziemlich angespannt.
Was auch immer die russische Regierung in der Ukraine zu gewinnen hofft, die Herzen in Europa gewinnt sie damit kaum – auch nicht unter den wenigen jungen Menschen, die hierzulande Russisch lernen. Aber wozu auch braucht eine Großmacht wie Russland Freunde an einem Wiener Gymnasium?
Ergänzung am 1. März 2022
Als das Vorstehende geschrieben wurde, Anfang vergangener Woche, wollte auch ich noch nicht glauben, dass die russische Regierung Ernst machen und die Ukraine mit einem vorgestrigen Landkrieg überziehen würde. Seit dem Tag des Angriffs wird in der Russisch-Klasse unserer Tochter endlich über all das geredet, ausgiebig und offen. Die Oma einer Schülerin sitzt in Kiew, sitzt im Wortsinn, denn sie ist an den Rollstuhl gefesselt und kann nicht in den Luftschutzkeller fliehen. Die Lehrerin erzählt von einer Freundin in Russland, deren Sohn zum russischen Militär eingezogen wurde und die seit Tagen vergeblich in Erfahrung zu bringen versucht, wo ihr Sohn ist und wie es ihm geht. Schülerinnen und Lehrerin sprechen über ihre Ängste und ihren Schmerz. Es ist nur ein schwacher Trost – aber immerhin ein Trost, dass wenigstens in dieser Schulklasse kein Krieg herrscht.
Seit mehr als einer Woche leisten also auch wir unseren Beitrag zum Erreichen der Herdenimmunität. Nachdem unser Sohn das Virus aus der Schule eingeschleppt hatte und krank wurde, ging es wie bei den Dominosteinen: Zwei Tage später ist meine Frau umgefallen, tags darauf ich, nur unsere Tochter trotzt bisher standhaft den unsichtbaren Invasoren. Wie es scheint, haben wir gottlob eh nur das, was die Virologen einen „milden Verlauf“ nennen. Aber auch wenn das Virus altersmilde geworden sein mag: Wir waren bloß froh, dass unsere Kinder aus dem Gröbsten heraus sind. Was Eltern von – womöglich gar erkrankten – Kleinkindern durchmachen, wenn sich beide gleichzeitig das Coronavirus einfangen, möchte ich mir nicht ausmalen. Knockout und Quarantäne sind schon keine gute Kombi. Aber Kleinkinder würden ihr die Krone aufsetzen.
Wer blöde Kalauer machen kann, muss sich auf dem Weg der Besserung befinden. Auch ein wieder erwachtes Interesse für die Außenwelt gilt ja gemeinhin als gutes Zeichen bei einem Kranken. Ob dieses Interesse seiner Rekonvaleszenz förderlich ist, steht auf einem anderen Paper. Der erste Blick über den Tellerrand unseres Quarantänehaushalts galt natürlich der allgemeinen Pandemielage. Und da lese ich gleich die Meldung, Herr Lauterbach habe getwittert: „Studien legen nahe, dass man sich relativ kurz nach der Infektion (mit ‚Omicron‘) wieder anstecken kann.“ Ich kann schon verstehen, warum dieser Mann vielen so sympathisch ist. Er ist immer so aufbauend. Aber hatte Herr Drosten nicht gerade erst erklärt, dass man nach drei Impfdosen und anschließender Infektion „auf Jahre hinaus“ immun sei? Frag zwei Ärzte, und du kriegst drei Antworten.
Wobei man als Laie ja froh sein kann, wenn diese Götter in Weiß in normaler Sprache zu einem sprechen. Auf orf.at wird ausgiebig Katharina Reich zitiert. Die Dame ist Vorsitzende der GECKO, der „Gesamtstaatlichen Krisenkoordination“, die am Wochenende ihre Strategie für den Herbst präsentiert hat. Diese beinhaltet eine Auffrischungsimpfung im September. Weil: „Dies nicht nur, um den Individualschutz zu verbessern, sondern auch den kurz dauernden infektions- und transmissionsreduzierenden Effekt der Boosterungen (den wir ja auch schon bisher gesehen haben) strategisch besonders gut für die Herbstwellendämpfung auszunützen. Dieser Effekt wird vor allem über die Antikörperbildung mediiert, die post-booster besonders gut ist.“
Das wird jedem Impfskeptiker unschwer einleuchten.
Wen wundert es da, wenn viele Menschen lieber Ricardo Leppe zuhören. Auf allen einschlägigen Kanälen holt der sympathische Jungunternehmer aus dem niederösterreichischen Gloggnitz die Menschen genau dort ab, wo sie sind. Ein Menschenfischer, der im Netz seine Netze auswirft: „Wenn’s dich hier schon mal hergetrieben hat, dann wirst du vielleicht auch spüren, da draußen, da passt irgendwo was nicht. Die einen fressen sich zu Tode, und die anderen haben nichts zum Essen. Da rennt doch irgendwas schief. Oder wo es dann heißt, nein, wir sind doch die höchst fortgeschrittene Zivilisation überhaupt, aber wir sind fast alle so krank wie noch nie … da passt doch irgendwas nicht zusammen.“
Was nicht passt, wird passend gemacht – dank Ricardo Leppe, der das Übel an der Wurzel packt, nämlich den Staat an seinem Bildungsystem. Mit seinem Aufruf, den öffentlichen Schule den Rücken zu kehren, findet er offenbar wachsenden Zulauf, vor allem unter Menschen, die Probleme mit dem Impfen haben.
Ich habe unsere Tochter gefragt, was sie besser fände, wenn sie die Wahl hätte: mit uns in den Wald oder in die Schule zu gehen? Die Arme, obwohl „pumperlg’sund“, hockt seit mehr als einer Woche in freiwilliger Quarantäne mit uns zuhause herum, um niemanden versehentlich anzustecken. Sie hat nur die Augen verdreht und geseufzt: „Ich wäre so gern bei meinen Freunden in der Schule“. Noch lieber wäre sie jetzt allerdings irgendwo im Süden am Meer. Wie sind eigentlich die Strände in Peru, Herr Leppe?
Nachträglicher Vorschlag am 8. Februar 2022
Warum nimmt unsere Regierung eigentlich nicht Herrn Leppe unter Vertrag, damit er für die Impfpflicht wirbt? Gewiss hat der Mann seine Prinzipien, und Prinzipien haben ihren Preis. Aber er scheint auch Geschäftssinn zu haben, und nachdem sich der Bund durch den Ausfall der Impflotterie 1,5 Milliarden Euro erspart, sollte das doch Spielraum für ein diskutables Angebot eröffnen. Gloggnitz wäre jedenfalls ein pittoresker Ort für ein Damaskus-Erlebnis …
Was FM4 angeht, war ich ja ein Spätberufener. Obwohl ich den Rundfunksender lange vorher kannte, habe ich ihn erst mit Anfang Vierzig so richtig entdeckt, dann aber so richtig, dass ich lang keinen anderen mehr gehört habe. Über Jahre hinweg blieb der Drehregler des alten Blaupunkt-Kofferradios in unserer Küche auf 103,8 MHz gestellt, und wenn ich der Hausarbeit nachging, kam mit den Wellen, die der Sender Kahlenberg auf dieser Frequenz ins Weinviertel ausstrahlt, ein wenig Weltläufigkeit und Progressivität in mein retardiertes Provinzdasein.
Es war nicht so sehr, dass ich mich beim Hören von FM4 wieder jung fühlte. Eher war es der verspätete Genuss, zuhörend am Lebensgefühl einer Jugend teilzuhaben, die anders als meine nicht in den Zwängen einerbildungsbürgerliche Erziehung und der Auflehnung dagegen stecken geblieben war. FM4 klang einfach „lässig“, das heißt auch die Musik, vor allem aber die Leute hinter den Mikrofonen. Deren Stimmen und Namen wurden mir mit der Zeit vertraut, manche Stimmen mochte ich mehr als andere und eine ganz besonders, weil sich das Jugendhafte, das ich an FM4 liebte, in ihrem Klang verkörperte.So bekannte ich am 8. Januar 2012, also vor fast genau zehn Jahren, einer Freundin in Deutschland per Mail:
„Habe ich Dir eigentlich mal von meinem Radio-Schwarm erzaehlt? Ich hoere, wenn ich Radio hoere, allermeistens fm4, das ist der progressive, jugendliche Ableger des ORF, und da gibt es eine Moderatorin, die ich immer besonders gern hoere: Gerlinde Lang. Nicht so sehr wegen dem, was sie erzaehlt, oder wegen der Musik, die sie auflegt (obwohl mir die auch oft taugt), sondern hauptsaechlich oder eigentlich nur wegen ihrer Stimme und ihrer Art zu sprechen. Ich habe kein Bild von der Frau, mache mir auch keins (und will irgendwie auch nie eines sehen), aber wenn ich das Radio einschalte und sie moderiert (immer nur) zufaellig, hebt sich sofort meine Laune.“
Seit zwei, drei Jahren höre ich nicht mehr so oft FM4 (was hauptsächlich an der Musik liegt, mit der ich immer weniger anfangen kann). Dennoch fiel mir irgendwann auf, dass Gerlinde Langs Stimme länger nicht zu hören war, und ich machte mir Gedanken, was wohl mit ihr los sei: Umzug ins Ausland, berufliche Neuorientierung, Babypause? Als ich dann wieder einmal zufällig in eine von ihr moderierte Sendung stolperte, freute ich mich sehr, dass es sie noch gab, und so war es ein jedes der immer selteneren Male, dass ich ihre Stimme vernahm.
Bis ich Sonntag abend auf einer Autofahrt den „FM4 Zimmerservice“ einschaltete und, nach Bob Dylans „Don’t Think Twice“, den Moderator sagen hörte: „… Gerlinde Lang, die wie gesagt letzte Woche gestorben ist“. Erst dachte ich, ich hätte mich verhört, aber auf der Internetseite des ORF fand ich die Bestätigung, dass die Moderatorin „am 28. Dezember nach langer schwerer Krankheit verstorben ist“.
Es stimmt mich traurig, dass ich beim Aufdrehen des Radios nie mehr unverhofft Gerlinde Langs Stimme hören werde. Doch sie wird mir im Ohr bleiben.
In seinem Frühneuzeitroman „Eine Geschichte des Windes“ erzählt Raoul Schrott „Von dem deutschen Kanonier, der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal“. Unlängst erhielt ich die Anfrage, ob es diesen Kanonier tatsächlich gegeben und die Geschichte des Romans somit einen wahren Kern habe.
Ja, hat sie. Eine andere Frage ist, wie groß dieser Kern ist und wie fest.
In den Heuerlisten von Magellans Molukken-Expedition, die im spanischen „Indienarchiv“ in Sevilla verwahrt werden, finden sich die Namen von drei Männern, die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit Deutsche waren. Sie alle wurden als „Lombarderos“ angeheuert, das heißt als Geschützmeister, die sich auf die Bedienung schwerer Feuerwaffen verstanden (vom Wort „lombarda“, dasim damaligen spanischen Sprachgebrauch einenschweren Geschütztyp bezeichnete; vgl. deutsch „Bombarde“). Einer der drei Männer hieß „Jorge“, also Georg, die anderen trugen beide den Namen „Hans“ bzw. „Hanse“.
Offenbar hatten die spanischen Schreiber es nicht so mit deutschen Namen. Mal buchstabierten sie „Hans“, mal „Hanse“, dann wieder „Anes“ (sprich „Hannes“). Doch unsere beiden „Hanse“ lassen sich trotzdem gut auseinanderhalten. Erstens wurden in den Heuerlistenauch die Namen ihrer Herkunftsorte und Eltern verzeichnet, und zweitens dienten sie auf verschiedenen Schiffen, Hans Nummer 1 als „condestable“, das heißt Chef der Artillerie, auf der Nao Concepción und Hans Nummer 2 als „lonbardero“ (sic!) auf der Nao Vitoria. Dieser zweite Hans war „gebürtig aus Agan“, was gemeinhin mit „Aachen“ gleichgesetzt wird.
Als die Nao Vitoria Anfang September 1522 nach fast dreijähriger Odyssee rund um den Globus – der ersten historisch belegten Umrundung der Erde – wieder einen spanischen Hafenanlief, befand sich unter den 21 Überlebenden an Bord auch ein „Anes lonbardero“. Dass dies Hans 2 war, der mutmaßliche Aachener, geht aus der Endabrechnung seiner Heuer hervor, wo aufgeführt ist, dass er während der gesamten Fahrt auf der Vitoria gedient hatte, am Ende im Rang eines „condestable“.
Im übrigen umrundete auch Hans Nummer 1 die Erde, allerdings nicht an Bord der Vitoria. Der in den Dokumenten zumeist „Hanse Vargue“(sprich „Hans Barge“) Genannte geriet auf den Molukken in portugiesische Gefangenschaft. Jahre später, 1526, gelang ihm auf einem portugiesischen Schiff die Rückkehr nach Lissabon, wo er kurz darauf im Kerker starb.
So weit, so gut – oder ungut. Aber wie steht es mit der zweiten und dritten Umrundung der Erde?
Dass der Geschützmeister Hans aus Aachen ein zweites Mal um die Welt gesegelt und damit der erste Mensch sei, dem solches gelang, liest man nicht nur im Roman von Raoul Schrott, sondern auch auf Wikipedia. Zum Beleg wird dort auf das Buch „The First Circumnavigators“ verwiesen, in dem der amerikanische Forscher Harry Kelsey Geschichten über „die ersten Weltumsegler“ zusammengetragen hat. Darin erfährt man, dass besagter Hans auch auf der zweiten spanischen Molukken-Expedition anheuerte, die 1525 unter dem Kommando von García Jofre de Loaísa in See stach. Diese Expedition nahm ein sehr unglückliches Ende.
Nur eines von sechs Schiffen erreichte die Molukken, keines kehrte nach Europa zurück. Lediglich ein paar versprengte Überlebende fanden Mitte der 1530er Jahre, sowie zehn Jahre zuvor die letzten Veteranen der Magellan-Expedition, auf portugiesischen Schiffen den Weg zurück in die Heimat. Einer davon war Andrés de Urdaneta, der später eine gewisse Berühmtheit erlangen sollte, weil er zu den ersten Europäern zählte, denen die Überquerung des Pazifik von Westen nach Osten gelang. Aber das war erst 1565 und ist eine andere Geschichte.
Nachdem Urdaneta 1536, auf dem Weg über Indien, von den Molukken nach Europa zurückgekehrt war (und damit gleichfalls die Erde umrundet hatte), schrieb er einen Bericht über die gescheiterte Loaísa-Expedition. Unter den Teilnehmern erwähnt er einen gewissen „maestre Ans, condestable de los lombarderos“, also sinngemäß „Meister Hans, Chef der Artilleristen“. Über diesen „Meister Hans“ sagte Urdaneta aus, dass er zuvor schon mit Magellan zu den Molukken gefahren sei. Eskann sich dabei nur um Hans aus Agan/Aachen (Hans 2) handeln, weil dessen Namensvetter (Hans 1) ja bis 1526 in portugiesischer Gefangenschaft verblieb und dort starb.
Die Teilnehmer der Loaísa-Expedition von 1525, die es bis zu den Molukken geschafft hatten, lieferten sich dort einen jahrelangen, blutigen Kleinkrieg mit den Portugiesen. In diesem Zusammenhang erfahren wir aus Urdanetas Bericht über Meister Hans, dass er 1529 mit einigen seiner Kameraden zu den Portugiesen übergelaufen sei. Was danach aus ihm wurde, ist nirgends dokumentiert. Nur eine Handvoll von Loaísas Leuten schaffte es am Ende, über Portugiesisch-Indien nach Europa zurückzukehren. Und wiederum nur von einigen sind die Namen überliefert. Ein Hans, „Anes“oder „Ans“ ist nicht darunter.
Nun ist die Loaísa-Expedition nicht annähernd so gut dokumentiert und erforscht wie ihre Vorgängerin, die Armada des Magellan. Es könnte daher sein, dass noch irgendwo im Indienarchiv ein Aktenbündel herumliegt, aus dem wir mehr über das weitere Schicksal des Geschützmeisters Hans erfahren würden. Doch zumindest in den digitalisierten Beständen, die über das „Portal der spanischen Archive“ zugänglich sind, war nichts dergleichen zu finden.
Worauf stützt sich also die Behauptung, dem Hans aus Agan/Aachen sei ein zweites Mal die Umrundung der Erde geglückt?
Harry Kelsey verweist in seinem Buch „The First Navigators“ auf einen weiteren Expeditionsbericht, der, handgeschrieben und ohne Nennung des Autors, unter der Signatur Add. MS 9944 in der British Library aufbewahrt wird. Von diesem Bericht wurde bisher nur ein Teil gedruckt, aber erfreulicherweise hat die australische Nationalbibliothek ein vollständiges Digitalisat ins Netz gestellt. Der Bericht handelt im wesentlichen von einer weiteren spanischen Ostasien-Expedition, die 1542 unter dem Kommando von Ruy López de Villalobos von Neu-Spanien aus, dem heutigen Mexiko, in See stach, um die Philippinen anzusteuern.
Tatsächlich wird darin (Kapitel 31, f. 55v) abermals ein deutscher Geschützmeister namens Hans erwähnt, nämlich „un lombardero alemán llamado mahestre Anse“ (an anderer Stelle als „artillero mahestre Ans“). Dieser Hans half den Teilnehmern der Villalobos-Expedition mit einem von ihm bedienten Geschütz aus der Patsche, als sie auf den Inseln Sarangani und Balut, an der Südostspitze Mindanaos, von einheimischen Kriegern bedrängt wurden. (Die Spanier waren anscheinend am Verhungern und steuerten daher die Inseln an, um Nahrungsmittel notfalls zu rauben, was sich die Einheimischen, wenig verwunderlich, nicht gefallen ließen.)
Wenn ich richtig sehe, war es diese Erwähnung, die Harry Kelsey veranlasst hat, jenem Hans aus Agan/Aachen, der 1519 bis 1522 auf der Nao Vitoria die Erde umrundete, noch eine zweite komplette Erdumsegelung zuzuschreiben. Denn wenn derselbe Hans sich 1542 unter López de Villalobos auf die Philippinen einschiffte, musste er ja zuvor von den Molukken, wo seine Anwesenheit 1529 dokumentiert ist, nach Mexiko gelangt sein, zum Ausgangspunkt der Villalobos-Expedition. Da die West-Ost-Überquerung des Pazifik bis dato keinem europäischen Schiff gelungen war, konnte er dorthin nur auf dem Weg über Indien und Europa gelangt sein, das heißt indem er ein weiteres Mal die Erde umrundete.
Kelsey macht diese Argumentation nirgends explizit, aber sie ist die einzige schlüssige Begründung für seine Behauptung, die ich mir denken kann. Einen anderen Hinweis, zum Beispiel Heuerlisten, wie sie von der Magellan-Expedition überliefert sind, habe ich bisher nirgends entdecken können. Zwingend ist diese Argumentation freilich nicht und die zweite Erdumrundung von Meister Hans in meinen Augen daher nicht als historische „Tatsache“ anzusehen.
Zwar gibt es belastbare Belege dafür, dass ein Hans aus „Agan“ (Aachen?) an Magellans Molukken-Expedition von 1519 teilnahm, auf der Nao Vitoria die Erde umrundete und 1522 nach Spanien zurückkehrte, sich 1525 unter Loaísa abermals zu den Molukken einschiffte und sich bis mindestens 1529 dort aufhielt. Aber dieser Hans muss nicht derselbe Hans sein, der 1543 auf Sarangani sein Geschütz in Stellung brachte.
Jedenfalls lässt sich aus der Namensgleichheit nicht zwingend auf die Identität der Person schließen, selbst wenn beide denselben Beruf des Geschützmeisters ausübten. Dafür war Hans seinerzeit einfach ein zu häufiger Name, wie man ja schon daran sieht, dass auf Magellans Expedition gleich zwei „Hanse“ mit demselben Metier anheuerten – ganz abgesehen von ihren zahlreichen spanischen und italienischen Namensvettern, all den Juans und Giovannis, die ebenfalls mitfuhren. Aus der Geschichte der Frühen Neuzeit und mehr noch des Mittelalters kennt man dieses Phänomen zur genüge: die Häufung gleicher Namen ohne weitere Spezifizierung, die bei der Identifizierung von historischen Individuen Probleme macht und oft zu Fehlschlüssen verleitet.
Aber selbst, wenn der Hans von 1519/29 und jener von 1542 dieselbe Person waren, was ja immerhin möglich ist: Wer sagt, dass dieser Hans, nachdem er 1529 auf den Molukken zu den Portugiesen übergelaufen war, überhaupt nach Europa zurückgekehrt ist? Von anderen Teilnehmern der Expedition, die in portugiesische Gefangenschaft geraten waren, weiß man, dass sie bereitwillig in Asien blieben. Einzelne gründeten dort sogar Familien, andere reisten weiter, zum Beispiel nach China. Rein theoretisch könnte unser Hans daher auch in Südostasien geblieben und, auf welchem Wege auch immer, auf die heutigen Philippinen gelangt sein, wo er sich wieder den Spaniern angeschlossen hätte, die 1543 dort landeten.
Was von weitem wie eine „historische Tatsache“ aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung oft als grobkörniges, unscharfes Gebilde mit wenigen klaren Konturen, aber dafür umso mehr Schattierungen und grauen Flächen, die sich für Projektionen aller Art eignen. Was nach meinem Verständnis den Historiker vom Dichter – und die Historikerin von der Dichterin – unterscheidet, ist die Art und Weise, wie wir mit dieser Sachlage umgehen. Auch wir müssen Leerstellen in der Überlieferung überbrücken, zuweilen unscharfen Dingen klarere Konturen geben, müssen dabei aber stets den Unterschied kenntlich machen zwischen dem, was durch die Quellen, Dokumente, archäologische Funde usw. vorgegeben ist, und den Gedanken, die wir aus diesen Gegebenheiten entwickeln. Ich denke, dieser Unterschied ist wichtig.
Daher mein Fazit: Es ist durchaus möglich, dass der Geschützmeister Hans aus Agan (Aachen?), der 1519 bis 1522 auf der Nao Vitoria die Erde umrundete, dies zwischen 1525 und 1535 ein zweites Mal tat. Erwiesen ist es (bisher) nicht.