Endlich wieder erhältlich:

Pigafetta auf Deutsch

Veröffentlicht am 21. Januar 2025

Er ist mir ans Herz gewachsen, der gute Pigafetta. Von 1519 bis 1522 ist er unter den Kapitänen Magalhães, Carvalho, Gómez Espinosa und Elcano einmal rund um den Erdball gesegelt. Es war das erste Mal, soweit wir wissen, dass Menschen eine solche Reise unternommen haben, und Pigafetta hat darüber berichtet – so anschaulich und unterhaltsam, dass sich sein Bericht noch heute liest, als wäre sein Autor eben erst aus der Ferne zurückgekehrt.

Zu Recht gilt sein Werk daher als Klassiker der internationalen Reiseliteratur. Es wurde in viele Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche, aber die deutschen Übersetzungen, die es bis vor wenigen Jahren von Pigafettas Bericht gab, waren alle gekürzt und teils grob verfälscht. Daher habe ich den Text neu übersetzt, zum ersten Mal direkt aus der Originalsprache ins Deutsche, und die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg) hat die Neuübersetzung 2020 als Buch herausgebracht.

Leider ist die wbg Ende 2023 insolvent gegangen. Seitdem war die Neuübersetzung vergriffen und Pigafettas schöner Bericht abermals nur in unvollständiger, entstellter Form erhältlich. Um so mehr freue ich mich, dass der Verlag C.H. Beck nun eine überarbeitete Neuauflage meiner Übersetzung auf den Markt bringt. Sie kommt demnächst in die Buchläden und wird gewiss allen Menschen Freude machen, die gern mit Büchern auf die Reise gehen.

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Lesefrucht

Veröffentlicht am 23. Dezember 2024

„Man braucht sich vor den wilden Männern nämlich nie zu fürchten. Je mehr wirklich in ihnen steckt, desto eher bequemen sie sich den wirklichen Verhältnissen an, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gibt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das auch schon aufgefallen ist, aber es hat noch nie eine Opposition gegeben,  die nicht aufgehört hätte, Opposition zu machen, wenn sie ans Ruder gekommen ist; das ist nämlich nicht bloß so, wie man glauben könnte, daß es sich von selbst versteht, sondern das ist etwas sehr Wichtiges, denn daraus entsteht, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Tatsächliche, Verläßliche und Kontinuierliche in der Politik!“

Graf Leinsdorf („Se. Erlaucht“)

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Mein kleiner Laden

Veröffentlicht am 3. Dezember 2024

Stellen sie sich diesen Webauftritt vor wie einen jener kleinstädtischen Läden, deren Auslagen man ansieht, dass die Inhaber schon länger nicht mehr in ihr Geschäft investiert haben: das Schaufenster leicht trübe, die Fotos verblichen, die spärlichen Waren nicht mehr der neuste Schrei, aus dem Postkasten quillt Werbung, und die eigenartigen Öffnungszeiten künden weder von reger Nachfrage noch von ausuferndem Arbeitseifer.

Leben können die davon nicht, denkt vielleicht, wer an einem solchen Laden vorbeigeht, und dass die Eigentümer – müssten sie Miete zahlen, hätten sie längst zugesperrt – wohl bald in Pension gehen. Letzteres trifft in diesem Fall nicht zu (und wird angesichts meiner Rentenprognose auch nie eintreten), ersteres durchaus. Aber das mit dem mangelnden Arbeitseifer würde ich doch gern richtigstellen.

Hinter dem Laden befindet sich eine kleine Werkstatt, mit einem Ofen, Bücherregalen und einem Schreibtisch, an dem der Besitzer Tag für Tag seinem Handwerk nachgeht. Hin und wieder arbeitet er auf Bestellung, das ein oder andere Stück kommt in die Auslage, manches wieder ist nur für den Hausgebrauch. Und dann ist da noch das große Werk, an dem er seit Jahr und Tag spinnt und webt und von dem er nicht weiß, ob er es jemals vollenden wird.

Wer öfters vorbeikommt und vor dem Schaufenster stehen bleibt, wird bemerken, dass die Auslage sich immer wieder verändert. Ab und zu wird aufgeräumt, neue Dinge kommen hinein, und manchmal kann man abends sogar Licht sehen, das in der Werkstatt brennt und durch einen Türspalt in den Ladenraum fällt.

Eskapismus

Veröffentlicht am 26. November 2024
Es gibt genügend Ungemach auf Erden
Und Dinge, die den Tag dir bald vergrämen.
Die Medien sind voll von düstern Themen,
Die Welt ein Dorf mit lauter Krisenherden.

Sie wollen nicht ganz ernst genommen werden,
Doch ihre Gegner müssen sie ernst nehmen,
Und rühren sie dich auch nicht gleich zu Tränen,
So werden sie den Tag dir nie verderben.

Wenn du mal ein Problem hast, brauchst du nur
Das A-Team einzuschalten. Hannibal
Hat immer einen Plan, und mit Bravour

Tun Faceman, Murdock und B.A. ganz schnell,
Was nötig ist – der Rest ist Action pur.
Und schon ist meine Stimmung wieder hell.
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Treu gedient

Veröffentlicht am 9. November 2024

Dass angesichts der Wiedervereinigung keine Euphorie angebracht war, haben trotz ihrer Jugend hellsichtige Geister wie ich schon 1990 geahnt. Unsere größte Sorge war damals, dass liebgewonnene Errungenschaften der in der DDR entfalteten Produktivkräfte nun abgewickelt würden: etwa die real-existierende Satirezeitschrift „Junge Welt“, die Briefmarken mit den aufmunternden Parolen und vor allem natürlich die köstliche Koffeinbrause „Club-Cola“.

Denn die meisten DDR-Bürger wollten erklärtermaßen ja keine Freiheit, sondern „Marlboro, Golf GTI und ’nen Videorecorder“. Doch wir haben den Kapitalismus unterschätzt. Er ist in der Lage, alles, aber auch wirklich alles in Waren zu verwandeln, also nicht nur profane Dinge wie Gesundheit, Bildung und Liebe, sondern auch die Erinnerung an das real-existierende Glück hinter sozialistischen Mauern.

So kommt es, dass sich diese Erinnerung heutzutage mit einer breiten Palette von Konsumartikeln pflegen lässt, die Markennamen von ehemaligen Ostprodukten tragen und dank Internet nun auch im Westen käuflich sind: Halloren-Kugeln, Rotkäppchen „Mocca Perle halbtrocken“, Rasierwasser „TÜFF ROT“ und und und. Auch Club-Cola wird weiter produziert, wenn auch „Nicht für jeden. Nur für uns.“

Selbst wenn es sich um einen Nischenmarkt handeln mag: Studiert man das Angebot von spezialisierten Online-Händlern wie „ossiladen.de“, gewinnt man den Eindruck, dass der Sozialismus sich 2024 einer Produktivität und Nachfrage erfreut, die ihm vor 1989 versagt blieben. Wie viele der damals 2,7 Millionen NVA-Reservisten trugen in ihrer Freizeit T-Shirts, auf deren Brust das „Original-Abzeichen“ eines bewaffneten Organs der DDR prangte – mit dem Slogan „TREU GEDIENT“ darunter? Und dann noch eines mit dem Emblem der allseits beliebten „Grenztruppen“?

Solche Paraphernalia bewarb der Online-Händler „Ossiladen“ neulich in einem Newsletter mit der Behauptung, NVA-Soldaten hätten in „der einzigen deutschen Armee“ gedient, „die nie einen Krieg führte“. Lassen wir diesen Seitenhieb auf die Bundeswehr mal beiseite – er spielt womöglich auf ihre Beteiligung an der völkerrechtlich umstrittenen „Operation Allied Force“ 1999 an – und konzentrieren uns auf die folgende Behauptung: „Die sich weigerte, auf das eigene Volk zu sdc“ (sic!).

Was wollte die Marketing-Fachkraft des VEB „Ossiladen“ hier eigentlich geschrieben haben: „schießen“?

Wie oft die Grenztruppen der DDR den Schießbefehl verweigerten, bezeugen die mindestens 140 (und mutmaßlich viel mehr) Todesopfer allein an der Berliner Mauer …

Allgemeiner Trend

Veröffentlicht am 17. Oktober 2024
Und wieder lieg ich hier auf meiner Yacht,
Dem eitlen, leeren Müßiggang ergeben
Und gänzlich ohne Plan und Sinn im Leben,
Da hab ich unversehens mir gedacht:

Was wohl die Lena Hoschek derzeit macht,
Die für ihr unternehmerisches Streben,
Die Mode zum Geschäftszweck zu erheben,
von mir einst mit Bewunderung bedacht?

Was muss ich nun im Internet erfahren?
Auch sie folgt einem allgemeinen Trend,
Der leider zunimmt in den letzten Jahren

Und sichtlich keine Gegenrichtung kennt:
Es wankt nun auch das Reich der Modezarin,
die Hoschek ist seit kurzem insolvent.

Immer wieder Österreich!

Veröffentlicht am 1. Oktober 2024

Als ich vor fast 20 Jahren in dieses Land zog, tat ich es unter dem Eindruck, dass in Österreich recht gescheite Leute lebten. Leute, die ihre Traditionen pflegten und zugleich die Chancen ergriffen, die ihnen die europäische Integration und Erweiterung nach Osten boten – also quasi „Laptop und Lederhose“, wie es damals in Bayern hieß, aber ohne das dümmlich Auftrumpfende, das die Bayern allseits so beliebt macht.

Nun, es ist wohl kaum nötig zu sagen, dass sich jener Eindruck als Täuschung erwiesen hat, und nicht erst am vergangenen Sonntag.

Wobei man zur Nationalratswahl 2024 anmerken muss, dass den ca. 6,35 Millionen Wahlberechtigten ab 16 Jahren ca. 1,5 Millionen Menschen gegenüberstehen, die nicht wählen durften, obwohl sie in diesem Land leben und älter als 16 sind. Der Grund: Sie besitzen – wie auch ich – nicht die österreichische Staatsbürgerschaft.

Österreich hat eines der restriktivsten Staatsbürgerrechte der Welt. Nur Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sind da noch strenger. Und die Zahl der hier Ansässigen ohne Wahlrecht wächst, weil die österreichische Gesellschaft wächst, aber eben nur dank Zuwanderung.

Dass das für die Repräsentativität von Wahlergebnissen Probleme aufwirft, liegt auf der Hand: Es relativiert erstens den Machtanspruch einer Partei, die zwar 29 % der Stimmen an Land gezogen hat. Rechnet man aber die freiwilligen und unfreiwilligen Nichtwähler heraus, haben „nur“ 18 % der hier lebenden Menschen im wahlfähigen Alter sie gewählt, oder anders gesagt: 82 % haben die Partei nicht gewählt.

Von einer echten „Volksherrschaft“ kann da kaum die Rede sein.

Geschlossene Gesellschaft

Zweitens verzerrt ein solches Wahlrecht den politischen Wettbewerb, indem es die Blut- und Boden-Parteien begünstigt. Denn die versprechen ja den eh schon Privilegierten noch mehr Vorrechte – oder vielmehr. Sie versprechen ihnen, jene anderen weiter zu entrechten, die schon jetzt weniger Rechte haben als die Einheimischen: die „Fremden“. Etwa durch Abschaffung des Asylrechts oder des Rechts auf Sozialhilfe für Nicht-Österreicher – aber womöglich ist ja auch hier Saudi Arabien das angestrebte Modell.

Jedenfalls spiegelt das Staatsbürgerrecht die Exklusivität der österreichischen Gesellschaft wider und fördert zugleich die völkische Zurichtung der Demokratie.

Das pathologische Ausmaß der hierzulande kultivierten Abneigung gegen „Fremde“ ist mir 2016 bewusst geworden, nach der sogenannten „Flüchtlingskrise“. Als Mitorganisator eines Hilfprojekts für Familien, die aus Syrien und dem Irak geflohen waren, wurde ich zum Adressat von Zuschriften angesehener Mitbürger, die ihrer „Trauer“ über die „Zerstörung“ ihrer „schönen Heimat“ durch „dieses Gesindel“ (d.h. die geflüchteten Familien) zum Ausdruck brachten. Und mir vorwarfen, an dieser Zerstörung mitzuwirken.

Um eins klarzustellen: Als Deutscher, der ökonomisch relativ unabhängig und zudem mit einer Österreicherin verheiratet ist, habe ich hier wenig auszustehen. Uns Deutschen gegenüber pflegen Österreicher ein ganz eigenes Ressentiment, das sich zwar gern trotzig gibt, das dahinter stehende Gefühl der Unterlegenheit lässt sich aber kaum verhehlen. Das macht es natürlich einfacher, sich dagegen zu wehren beziehungsweise Angriffe von vornherein zu vermeiden, indem man das genannte Gefühl beim Gegenüber schont. In letzter Zeit haben auch die Performance der Deutschen Bahn und Fußballnational-Mannschaft der Männer viel dazu beigetragen, das Verhältnis zu verbessern.

Neulich am Neusiedler See

Trotzdem erlebt man immer wieder so Sachen wie vor einiger Zeit am Neusiedler See. Eine Freundin – auch eine Deutsche, die schon lange hier lebt: wir Migrant:innen bilden nunmal gern unsere Parallelgesellschaften – hält sich dort ein kleines Boot, auf dem wir zusammen einen freien Tag genießen wollten. Da der See damals sehr wenig Wasser hatte, verbrachten wir den Tag großteils am Steg, wo die Boote eng an eng benachbart liegen. Neben dem unserer Freundin lag eine größere Yacht, deren Besitzer ebenfalls da war – Altergruppe: junger Pensionist.

Wie es so geht: Man grüßt über die Reling, wechselt ein paar belanglose Worte über das Wetter, den See usw., und dann sagt einem der Nachbar geradewegs ins Gesicht: „Noch mehr Deutsche! Es gibt hier eh schon viel zu viele von euch.“ Dabei stand neben ihm, ohne etwas zu sagen, seine sichtlich jüngere Partnerin. Dass auch sie aus Deutschland stammte, erfuhren wir dann von unserer Freundin.

Später versuchte ich den Mann zu beruhigen. Auch wenn man es an ihrer Sprache nicht höre: Meine Frau sei eigentlich Österreicherin und infolgedessen seien auch unsere Kinder Österreicher. Das hörten andere Nachbarn, die inzwischen dazugekommen waren, Besitzer eines Hauses neben dem Hafen und erkennbar gut situierte Leute. Sie mischten sich ein: Wenigstens seien unsere Kinder blond. „Das können wir hier in Österreich gut gebrauchen.“

Silbenakrobatik

Veröffentlicht am 24. September 2024
Das Klinggedicht in seiner Formenstrenge,
Mit seiner jambisch-fünfhebigen Statik
Und seiner Vier- und Drei-Reim-Systematik,
Assoziiert man oft mit Zwang und Enge.

Doch wenn ich mich in diese Jacke zwänge,
Dann tu ich’s, weil mich diese Problematik
Reizt, diese Art von Silbenakrobatik,
Das Arrangieren formgebundner Klänge.

Erstaunlich auch die Vielzahl an Geschichten,
Die man erzählen kann in vierzehn Zeilen
mit fünf betonten Silben, und mitnichten

Ein End in Sicht. So werd auch ich wohl feilen
An weiteren Sonetten, Klanggedichten,
Und wenn eins glückt, es gern mit andern teilen.

Wieder an Bord

Veröffentlicht am 29. Juli 2024

Nachdem der alte Tanker „Wissenschaftliche Buchgesellschaft“ im Herbst 2023 an den Klippen der Digitalisierung zerschellt war, drohte auch der Sobresaliente und Gentleman-Passagier Antonio Pigafetta im Strudel der Insolvenz unterzugehen. Was sehr schade gewesen wäre, hat der wackere Globetrotter doch eine Geschichte zu erzählen, die auch nach 500 Jahren nichts von ihrer Frische eingebüßt hat: seinen Bericht von der ersten Umsegelung der Erde 1519-1522.

Doch für alle Pigafetta-Fans und solche, die es noch werden wollen, gibt es gute Nachrichten: Wir konnten für Pigafetta eine neue Passage finden! Der Weltenbummler ist jetzt beim Verlag C.H. Beck an Bord gegangen, der seinen Bericht im Frühjahr 2025 wieder auf die Reise schicken wird. Das freut uns sehr, nicht zuletzt auch deshalb, weil dies die einzige vollständige und authentische deutsche Übersetzung von Pigafettas Reisebericht ist.

Enthält vermeintliche „True Stories“: Magazin REPORTAGEN.

Dass die Pigafetta-Ausgabe der Edition Erdmann den Text mutwillig verfälscht, hat sich anscheinend nicht überall herumgesprochen. So bringt das Magazin REPORTAGEN vom Mai 2024 einen als „historische Reportage“ deklarierten Auszug aus der Erdmann-Ausgabe. Da liest man dann wieder Unsinn wie den, dass Magellan seine Truppen vor dem tödlichen Scharmützel auf Mactan mit dem Hinweis auf die kriegerischen Erfolge des Hernán Cortés in Yucatán angefeuert habe – von denen Magellan jedoch weder wusste noch wissen konnte.

Angeblich bringt dieses Magazin „True Stories“ unter die Leute. Die folgenden Behauptungen seiner Redaktion sind jedenfalls nicht in allen Teilen wahr: Magellan sei „1521 auf einen Archipel“ gestoßen: „die Philippinen – so von Magellan nach seinem Financier, dem spanischen König Philipp, benannt“ … Tatsächlich hießen Magellans Geldgeber Karl I. und Cristóbal de Haro, und die Inselgruppe, auf die er am 16. März 1521 stieß, nannte er „Archipel des Heiligen Lazarus“. Ihren Namen „Philippinen“ gab den Inseln gut zwanzig Jahre später Ruy López de Villalobos zu Ehren des damaligen Kronprinzen von Spanien, Philipp II.

Wer glaubt, dass historische Fakten von Bedeutung sind, wird sich daher mit uns freuen, dass Pigafettas Bericht bald wieder in einer wahrhaftigen Übersetzung erhältlich ist. Gut lesen lässt sich diese Übersetzung übrigens auch: Das bezeugen nicht nur viele zufriedene Leser:innen, sondern auch Radio- und Fernsehproduktionen, die sie verwenden.

Mit der Natur versöhnt

Veröffentlicht am 4. Juni 2024

Eigenes Gemüse zu ziehen, ist ein Sehnsuchtsort vieler Menschen. Die Hände im Humus, den sorgenden Blick zarten Pflänzchen zugewandt, suchen sie nach ihrem beim Geldverdienen abhanden gekommenen inneren Selbst. Und dann wollen sie die Früchte genießen, die Mutter Natur freigiebig denen schenkt, die im Einklang mit ihr tätig sind.

Auch ich habe über Jahrzehnte versucht, dieses grüne Utopia in unserem Garten zu verwirklichen, dafür viel Zeit investiert – und nicht wenig Geld, denn die Produktpalette, die Baumärkte und Discounter für den biologischen Privatanbau anbieten, ist groß. Je größer aber das Investment, desto ärgerlicher natürlich, wenn man um den Ertrag seiner Mühen gebracht wird durch Mitesser, die selbst nicht säen, jedoch umso eifriger ernten. So wie die Nacktschnecken, die (angeblich aus Spanien) ihren Weg auch in unseren Garten gefunden haben.

Dass Arion vulgaris sich bei uns so wohlfühlt, ist einerseits der Lage unseres Gartens am feuchten Grund nahe eines Baches und in der schattigen Nachbarschaft alter Bäume geschuldet. Aber ich leiste seinem evolutionären Erfolg, fürchte ich, noch Vorschub mit meiner liberalen Einstellung gegenüber allem, was wächst. In unserem Garten herrscht ordentlich Wildwuchs, in dem nicht nur das Unkraut, sondern auch die Nacktschnecken gedeihen.

Nun stößt aber naturgemäß jedes „Leben und leben lassen“ da an Grenzen, wo die anderen das Eigene nicht leben lassen – und sei es auch, wie in diesem Fall, nicht das eigene Leben, sondern nur das eigener Gemüsekulturen, auf die sich die unersättlichen Bauchfüßer mit Vorliebe stürzen, solange sie noch jung sind, um sie rest- und rücksichtslos zu vertilgen.

Arion vulgaris kennt kein Erbarmen.
Bild: Foto Reves, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Ob Spinat oder Salat, Erdbeeren oder Erbsen, Kürbis- oder Gurkensetzlinge, Tomaten, Bohnen, ja sogar über Chili- und Kartoffelpflanzen machen sie sich her und lassen von ihnen nichts übrig als glänzende Schleimspuren am Boden.

Wer lässt sich so etwas schon gern gefallen?

Also bin ich zur Bekämpfung der Nacktschnecken aus-, bin ihnen mit Bierfallen und Schneckenkorn zu Leibe gerückt, habe sie wochenlang Abend für Abend im Licht der Stirnlampe eingesammelt, oft genug von Mücken gepeinigt, nicht selten im strömenden Regen, habe alles ausprobiert, die Schädlinge unschädlich zu machen: sie entzwei geschnitten, mit kochendem Wasser übergossen, ins Lagerfeuer geworfen, in Marmeladengläser gefüllt und in der Sonne stehen gelassen, bis sie sich zu einem stinkenden Sud zersetzt hatten … Auch habe ich Eierschalen und Lavagranulat ausgestreut, Schneckenzäune und Hochbeete errichtet in der Hoffnung, die lusitanischen Leckermäuler von meinen Kulturen fernzuhalten, und endlich, des ewigen Kampfes und Tötens müde, sogar Indische Laufenten angeschafft, von denen man sagt, sie seien die größten Fressfeinde der Nacktschnecken.

Doch obwohl wir zeitweilig zehn solcher Enten im Garten hielten, wurden auch sie der Plage nicht Herr, denn so eine Ente frisst vielleicht ein Dutzend Schnecken am Tag (nebst Spinat, Salat und anderen Dingen), im späten Frühjahr jedoch, zur Anbauzeit, fallen die gierigen Gastropoden in Heerscharen zu Tausenden und Abertausenden über unseren Garten her, tummeln sich auf dem Rasen, den Wegen, Komposthaufen und Beeten, kriechen in den Nächten, wenn es abkühlt, die noch warme Hauswand hinauf, ihren Kot hinterlassend, und überziehen die Fenster mit sich kreuzenden Schleimspuren, sodass wir uns zeitweilig wie unter Belagerung fühlen.

Schwadron indischer Schneckenfresser (Anas platyrhynchos) im Einsatz.

Gegen eine solche Invasion können auch ein paar Laufenten nichts ausrichten, und so haben wir, nachdem eines dämmrigen Novembernachmittags mutmaßlich ein Fuchs drei unserer damals noch vier Enten gerissen hatte, die Hinterbliebene einer Nachbarin geschenkt und uns keine neuen mehr angeschafft.

Heute bin ich frei.

Eines Abends, als ich wieder einmal über meinen Beeten hockte, Schnecken einsammelte und sie – weil ich sie schon lange nicht mehr töten mag – kurzerhand über den Zaun auf den brachliegenden Acker nebenan warf, im Wissen, dass die Schnecken von dort wieder in unseren Garten kriechen würden, sodass es eigentlich ein sinnloses Unterfangen war, sie dorthin zu werfen, aber ich dachte, auf diese Weise gewönnen meine Pflänzchen etwas Zeit, die ihnen – oder wenigstens einigen von ihnen – vielleicht so gerade eben erlauben würde, über die kritische Phase des Keimens hinauszuwachsen – während ich also dort hockte und Nacktschnecken aufklaubte, erkannte ich, dass diese schleimigen Tiere nicht viel anders sind als wir Menschen, oder besser gesagt: wir Menschen nicht anders als sie.

Auch wir fallen über diesen Planeten her, haben keine Fressfeinde mehr, sind unersättlich, wollen immer nur das Beste für uns, und der ökologische Fußabdruck, den wir hinterlassen, ist noch viel schlimmer als die Schleimspuren der Bauchfüßer.

Ich erkannte: Die Nacktschnecke ist unser Alter Ego und sie ist unsere Nemesis. Und in dem Augenblick beschloss ich aufzugeben, den Gemüseanbau für immer sein und den Garten den Schnecken zu überlassen. Seither geht es mir besser. Seither bin ich mit der Natur versöhnt, und mein Gemüse kaufe ich im Supermarkt.