Copy if you can

Veröffentlicht am 17. Mai 2023

Dass Bücher „die schönste und interessanteste Ware der Welt sind, von der Wissen, Aufklärung und Weltverständnis ebenso ausgehen wie Verzauberung und Verführung“ – als Bücherliebhaber liest man gern, was der Verleger Lothar Wekel auf der Website des Verlagshauses am Römerweg schreibt. Aber schauen wir doch mal genauer, welche interessanten Waren dieses Verlagshaus vertreibt!

Unter seinem Dach logiert die Edition Erdmann, in der seit sechzig Jahren die großen Namen der europäischen Reiseliteratur, von Wilhelm von Rubruk bis Alfred Wegener, immer wieder neu aufgelegt werden. In dieser illustren Sammlung darf auch Antonio Pigafettas „Augenzeugenbericht von der ersten Weltumsegelung“ nicht fehlen. Die nächste Neuauflage ist bereits angekündigt, in einer wohlfeilen Ausgabe: „Das Original im Paperback“.

Robert Grüns Pigafetta-„Edition“ von 1968
Bild: Wikimedia Commons

Das Etikett „Original“ scheint hier vor allem der Herausgeber zu verdienen: ein gewisser Robert Grün aus Wien, der offenbar ein Freund origineller Arbeitsmethoden war. Grün publizierte 1968 eine deutsche Fassung von Pigafettas Bericht im damaligen Horst Erdmann Verlag. 1970 legte er eine deutsche Bearbeitung des Bordbuchs von Christoph Columbus nach und 1973, gemeinsam mit seiner Frau, ein Buch über „Die Eroberung von Peru: Die Augenzeugenberichte von Celso Gargia, Gaspar de Carvajal, Samuel Fritz“, alle im Erdmann Verlag.

Was für eine beachtliche Reihe einschlägiger Veröffentlichungen! – dachte sich wohl ein Rezensent im Spektrum der Wissenschaft und attestierte dem Publizistenpaar Grün noch 2015, „ausgewiesene Kenner auf dem Gebiet der Historischen Geographie und des Zeitalters der Entdeckungen“ gewesen zu sein. Völlig zu Recht, denn:

Solche Kenner der Materie waren die Grüns, dass sie in ihrem Werk über die Eroberung Perus sogar einen „Augenzeugen“ jener bald 500 Jahre zurückliegenden Ereignisse präsentieren konnten, den bis dahin außer ihnen niemand gekannt hatte, nämlich den Augustinermönch „Celso Gargia“. Dieser „Fray Gargia“ soll Pizarros auf dessen Zug nach Peru begleitet und einen Bericht hinterlassen haben über das, was er dort mit eigenen Augen sah. Gefunden hatten die Grüns ihren „Zeugen“, wie sie einleitend erklärten, im Wiener Völkerkundemuseum (heute Weltmuseum), in einer dort befindlichen „Handschrift von Simancas“, deren Signatur sie freilich vergaßen anzugeben. Und das hatte seinen guten Grund …

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Wie unlängst in der FAZ aufgedeckt, existiert diese Handschrift ebenso wenig, wie es jemals einen Celso Gargia gab. Wohl lebte einst in Spanien ein Augustinermönch namens Celso García, der auch tatsächlich als Autor eines Buches über „Pizarro o Historia del descubrimiento del Perú“ firmiert. Aber dieser Celso Garcia kam nicht im 15. oder 16. Jahrhundert, sondern 1884 zur Welt, und sein Buch erschien zuerst 1923 und trug den Untertitel „relatada a los niños“ – „erzählt für Kinder“.

Was die Grüns in ihrem Werk über „Die Eroberung Perus“ erzählten, war jedoch kein Kindermärchen, sondern eine Geschichte voller Blut, Fanatismus und Grausamkeit, die sie wohl im wesentlichen – so die Autoren des FAZ-Artikels – von dem amerikanischen Historiker William H. Prescott abgekupfert hatten. Dessen ursprünglich 1847 publizierte „History of the Conquest of Peru“ war kurz darauf auch auf Deutsch erschienen und 1937 in Wien neu aufgelegt worden. Das Ehepaar Grün tat nicht viel mehr, als Prescotts historische Erzählung in die erste Person umzuformulieren – fertig war der „Augenzeugenbericht“ des 16. Jahrhunderts, der in dieser Form sogar Eingang in deutsche und österreichische Schulbücher für Gymnasien fand.

Einschlägige vorstrafen

Der promovierte Altphilologe Robert Grün hatte offenbar bereits Anfang der 1930er Jahre, während seines Studiums an der Universität Wien, ein „entspanntes Verhältnis zur Wahrheit“ bewiesen, indem er die Unterschrift eines Professors fälschte und dafür eine Verwarnung und die Nicht-Anrechnung eines Semesters kassierte. Sein Titel wurde dem Herrn Doktor 1958 aberkannt, nachdem ihn das Landesgericht Linz wegen Veruntreuung von Verlagshonoraren zu einem Jahr „schwerer Kerkerstrafe“ verurteilt hatte, heißt es in dem FAZ-Artikel.

Nach dieser Lektüre war ich nun doch neugierig geworden, und so habe ich die Grün’sche Pigafetta-Ausgabe in der Edition Erdmann einer genaueren Prüfung unterzogen. (Dass ihr Text an vielen Stellen vom Original abweicht, war mir schon früher aufgefallen und der Grund, warum ich eine neue, authentische Übersetzung von Pigafettas Bericht anfertigte, die 2020 in der wbg erschienen ist.)

Die Textanalyse ergab, dass auch Grüns Pigafetta zu großen Teilen ein Plagiat ist. Als Kopiervorlage diente dem „Herausgeber und Übersetzer“ Robert Grün offensichtlich das 1908 im Piper-Verlag erschienene Buch von Oscar Koelliker: „Die erste Umsegelung der Erde durch Fernando de Magallanes und Juan Sebastian del Cano 1519 – 1522“.

Quellencollage als Kopiervorlage

Koelliker hatte Pigafettas Bericht (in der 1801 bei Julius Perthes erschienen Übersetzung von Amorettis Edition) mit anderen historischen Quellen montiert. Sein Buch ist eine Art Quellen-Collage, die sich zu einer umfassenden Darstellung von Magellans geschichtsträchtiger Reise aufsummiert. Um ein Beispiel zu geben:

In Pigafettas Schilderung der Schlacht von Mactan am 21. März 1521, die Magellan das Leben kostete, schob Koelliker einen Abschnitt aus dem Brief des Maximilianus Transylvanus „Über die molukkischen Inseln“ ein, der Magellan folgende Ansprache in den Mund legte:

„Lasset euch nicht einschüchtern, meine Brüder, von der Ueberzahl dieser Indier, unserer Feinde! Gott wird mit uns sein! Erinnert euch, dass vor kurzem der Kapitän Fernando Cortes in Yukatan mit 200 Spaniern 200.000 und 300.000 Indianer besiegte.“ (Koellikers Übersetzung)

Was allerdings Unsinn ist, denn die Nachricht von Cortés’ Umtrieben in Yucatán (bzw. Tabasco, denn gemeint ist wohl die Schlacht von Centla) gelangte erst im November 1519 nach Europa, zwei Monate nach Magellans Abreise von Kastilien, sodass dieser davon gar nichts wissen konnte. Aber egal. Transylvanus schrieb es, und Koelliker zitierte ihn. Zitierte ihn wohlgemerkt, wie es sich gehört, mit Angabe seiner Quelle. Grün wiederum übernahm das Zitat, aber ohne es als solches kenntlich zu machen. Bei ihm wirkt es, als hätte Pigafetta selbst die vermeintliche Rede Magellans berichtet. Und so ging Grün an vielen Stellen vor: Er übernahm Koellikers Einschübe in Pigafettas Text, aber anders als Koelliker kennzeichnete er sie nicht als Einschübe, sodass ein unbedarfter Leser nun für Pigafettas eigene Worte halten muss, was eigentlich aus anderer Quelle stammt.

Zwar wies Grün in einer „Anmerkung zur Edition“ darauf hin, am Text „geringfügige Veränderungen oder sogar Einfügungen“ vorgenommen zu haben, „die dem Brief des Maximilianus Transilvanus oder den Werken zeitgenössischer Historiker entstammen“. Aber er verschwieg, dass er diese Einfügungen nahezu wörtlich von Koelliker übernommen hatte und nannte weder dessen Namen noch dessen Buch. Auch verriet Grün nicht, dass er überdies noch weitere Passagen in Pigafettas Bericht eingefügt hatte, die weder bei Koelliker noch sonstwo dokumentiert sind, sondern gänzlich seiner eigenen Fantasie entsprungen waren.

Sex & Crime

In welchen Sphären sich die Fantasie des Ex-Doktors bewegte, lässt sich jenen Stellen seiner Pigafetta-Edition entnehmen, die sich nur dort und sonst nirgends in der Literatur finden. Da wird von Streit- und Mordfällen fabuliert, von sexuellen und kannibalistischen Gelüsten, verurteilten Ehebrechern, Meuterei-Komplotten, Schlangenbissen und dergleichen Dingen mehr – reinste Pulp Fiction, mit der Grün wohl Pigafettas Text aufpeppen wollte. Eine dieser Szenen gebe ich hier wieder. Sie soll sich während der monatelangen Fahrt über den Pazifik abgespielt haben, während derer die Besatzungen der Schiffe großen Hunger litten:

„Ich sah einen, der mit von Gier erfüllten Augen auf einen soeben verstorbenen Spanier starrte und dabei den Unterkiefer mahlend hin und her bewegte, und ich gab mich keinem Zweifel hin, daß dieser Seemann überlegte, welches Stück er aus dem Toten schneiden könnte, um es roh hinunterzuschlingen.“

Wie war das noch? Wissen, Aufklärung, Weltverständnis, Verzauberung und Verführung …

Bevor Sie nun der Verführung erliegen und sich – in der Hoffnung auf Wissen und Aufklärung – überlegen, Pigafettas schönen und interessanten Bericht von der ersten Erdumsegelung in der Edition von Robert Grün zu lesen: Vom allzu gierigen Verschlingen dieses Buchs sei abgeraten. Sie sollten es zuerst gründlich filetieren und unbedingt cum grano salis zu sich nehmen.

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Populisten

Veröffentlicht am 17. April 2023
Wer schützt uns gegen Klimaterroristen,
vor Genderwahn und Ökodiktatur?
Wer kümmert sich um eigne Leute nur?
Das schaffen ganz allein die Populisten.

Und wehe, einer sagt, sie wär’n Faschisten!
Denn kommst du ihnen auf die linke Tour,
Dann schalten sie sekundenschnell auf stur
Und setzen dich auf ihre schwarzen Listen.

Sie finden, Fremde hätten zu viel Rechte
Und Grenzen wär’n mit Stacheldraht zu stählen.
In Putin sehen sie nicht nur das Schlechte

Und Russland kann auf ihre Freundschaft zählen.
Den Frieden stören bloß die Nato-Mächte.
Da muss man eben Populisten wählen.

Der Rechner Fantasie

Veröffentlicht am 1. April 2023
Erinnert sich noch jemand an die Dot
com-Blase, jene große Hysterie?
Inzwischen heißt das Zauberwort KI
Und Algorithmus ist der neue Gott.

Was Menschen denken, gilt doch längst als Schrott
Verglichen mit der Rechner Fantasie;
Es komponiert die schönste Melodie
Und schreibt die feinste Lyrik uns ein Bot.

Bedauerlich ist dieser Trend mitnichten.
Wie viele Stunden hab ich schon verschwendet
Mit Reime-Finden und Sonette-Dichten!

Doch diese Mühsal ist nun bald beendet
Und dank KI kann ich mein Sinnen richten
Ganz auf die Dinge, die das Fernsehn sendet.

 

Die großen Gräben

Veröffentlicht am 20. März 2023

Im schönen Bundesland Niederösterreich, das seit fast 18 Jahren meine Wahlheimat ist, in der ich als Ausländer aber nicht wählen darf, gibt es sehr tiefe Gräben. Den Ötschergraben zum Beispiel, eine tief eingeschnittene Felsschlucht von ehrfurchtgebietenden Dimensionen, die den internationalen Vergleich nicht scheuen muss. Aber der Ötschergraben ist nicht annähernd so tief wie die Klüfte, die sich durch die politische Landschaft Niederösterreichs ziehen und die politischen Lager des Landes voneinander trennen.

Keine Angst: Dieser niederösterreichische Graben soll nicht geschlossen werden
Bild: Wikimedia Commons

Nachdem die hierzulande seit 1945 regierende Volkspartei bei den Wahlen im Jänner 2023 ihre absolute Mehrheit verloren hatte, gelobte sie, „die Gräben zu schließen“. Die Gräben zu den Sozialdemokraten erwiesen sich jedoch schnell als unüberbrückbar, was nicht überraschte, hatte die Landeshauptfrau doch bereits vor Jahren erkannt: „Rote bleiben Gsindl“ . Was blieb ihr also anderes übrig, als den bodenlosen Schrund am äußersten rechten Rand der politischen Landschaft zuzuschütten und eine Landbrücke zur FPÖ zu schaffen, die aus den Jännerwahlen als triumphale Siegerin hervorgegangen war.

Um einen solchen Abgrund auszufüllen, müssen freilich unvorstellbare Mengen an Morast und Schotter bewegt werden, wie das „Arbeitsübereinkommen“ der beiden Parteien illustriert:

  • So wird ein 30 Millionen Euro schwerer Fonds die „Schäden“, die durch die „Corona-Maßnahmen“ entstanden seien, „wieder gut machen“.
  • Auf den Pausenhöfen der Schulen wird künftig die Verwendung der deutschen Sprache „forciert“.
  • Dafür dürfen Wirtshäuser, die „ein traditionelles und regionales Speiseangebot“ aufweisen, mit Prämien rechnen.
  • Wohl um den Arbeitsmarkt von Teilzeit arbeitenden Müttern zu entlasten, wird „die Kinderbetreuung im Familienverband“ eine „finanzielle Aufwertung“ erfahren.
  • Dagegen soll das Land „für die überwiegend wirtschaftlich motivierten Zuwanderer möglichst unattraktiv“ gemacht werden.
  • Für Autofahrer wiederum dürfte Niederösterreich noch attraktiver werden als bisher. Die Übereingekommenen bekennen sich nämlich zu „flüssigem“ Individualverkehr, Straßenbau und natürlich zur Krone der technologischen Schöpfung: dem Verbrennungsmotor.
  • Der Individualverkehr sei „in Zukunft zu erhöhen“ und „vor mutwilligen Störungen zu schützen“. Daher wird „ein entschlossenes und rechtlich effektiveres Vorgehen gegen sogenannte ‚Klimakleber'“ für notwendig erachtet.

Freilich muss der immense Aushub an fossilem Gedankengut, mit dem der große Graben am rechten Rand der politischen Landschaft gefüllt werden soll, irgendwoher kommen, und so wird das Schließen des einen Grabens wohl andere Klüftungen vertiefen: zu denjenigen „Landsleuten“ nämlich, die sich ihre Zukunft nicht als Rückwärtsfahrt mit Vollgas in eine märchenhafte Vergangenheit vorstellen.

Schon werden die Böden hierzulande rissig von wochenlanger Trockenheit. Mit dem Klimawandel hat das aber bestimmt nichts zu tun. Ich glaube eher an einen Schadenszauber durch überwiegend wirtschaftlich motivierte Zuwanderer. Vielleicht sollte man zu dessen Abwehr ein paar Fremde lebendig begraben, wie es schon bei den alten Germanen gepflegter Brauch gewesen sein soll …

Minimalinvasiv

Veröffentlicht am 14. März 2023

Es ist nicht die Art Literatur, die ich normalerweise lese: ausgedachte Geschichten, zudem noch kurze. Aber ein alter Freund hat sie geschrieben, und darum habe ich sie zur Hand genommen. Dass ich mich hier darüber äußere, ist allerdings kein Freundschaftsdienst. Das möchte ich gern vorausschicken. Sondern weil mir die Geschichten gefallen, die Florian Schneider erzählt.

Bild: periplaneta Verlag und Medien

Sie handeln von scheinbar alltäglichen Begebenheiten – nichts Weltbewegendem, könnte man sagen, dabei erzählen sie doch von dem, was die kleine Welt bewegt, in der eine jede und ein jeder von uns lebt: von Erinnerungen, Träumen, vor allem aber von den Beziehungen zu denen, die uns am nächsten sind, seien es Partner, Kinder oder auch Tiere.

Da sitzt ein Mann frühmorgens in einem Hotelzimmer und sieht sich auf einem Tablet Bilder an, Bilder von einem aggressiven Hirntumor. Sein Blick, das erfährt man bald, ist der des Fachmanns. Nachdem er genug gesehen hat, tippt er in das Bildschirmgerät den Satz: „Lasst es den Chirurgen machen.“ Eine lapidare Anweisung in einer Sache auf Leben und Tod, gerichtet an die Mitarbeiter in seiner Klinik, denen er offenbar nicht zutraut, was er selber in diesem Fall tun würde, wenn er vor Ort wäre: den Tumor „minimalinvasiv“ entfernen.

Denn der Mann am Tablet, so erfahren wir, ist ein Pionier minimalinvasiver Schädel-OPs, eine Koryphäe seines Faches. Aber er ist nicht vor Ort, sondern in einem Hotelzimmer auf Mauritius, mit seiner neuen, mutmaßlich jüngeren Frau, für die er mit Mitte fünfzig seine Familie verlassen und die sich die Insel im Indischen Ozean zum Ziel ihrer Hochzeitsreise erwählt hat, weil diese „so weit weg“ ist, „dass du es niemals in die Klinik schaffst“.

In einer anderen Geschichte blickt eine Frau aus dem Fenster ihres Schlafzimmer auf die Felder, die einmal ihrer Familie gehört haben. Es ist September, es ist extrem heiß, und der Mais auf den Feldern, nichts als Mais, bis zum Horizont, wird geerntet: „Sie sind mit zwei Maschinen gekommen und sie arbeiten gegenläufig, Reihe um Reihe. Sie reißen die Stängel aus der Erde, als wären es Grasbüschel und oben aus den Rohren schießt der Häcksel in die Anhänger wie der Strahl von Erbrochenem.“

Später, am Abend, wird die Frau gierig die Flasche Wein aus dem Kühlschrank an die Lippen setzen und, weil sie nicht schlafen kann, noch auf einen Absacker zu Don Alfonso in die Dorfkneipe gehen. Dort war sie früher oft mit ihrem Mann, der sich zu Tode gesoffen hat, und dort wird sie heute Abend auf die Fahrer der Mähdrescher treffen, Saisonarbeiter aus Osteuropa, die hier fremd sind wie sie, die Eingeborene …

Auf jeweils drei, vier, fünf Seiten gelingt es Florian Schneider mit seinen literarischen Momentaufnahmen, das Leben eines Menschen oder eines Paares einzufangen in seinem Beziehungsreichtum und seiner Brüchigkeit. Dass dabei vieles nur angedeutet wird und noch mehr ungesagt bleibt, der Fantasie des Lesers überlassen, ist alles andere als ein Manko. Die losen Enden machen – zusammen mit der akkuraten, niemals auftrumpfenden Sprache für mich den Reiz der Lektüre aus.

Es gibt auch ein paar längere Geschichten, wie die von den beiden jungen Leuten, Kollegin und Kollege in einer Berliner Werbe-Agentur, die eine romantische Beziehung eingehen. Aber mir gefallen die kurzen, die irgendwo einsetzen und ihre Story nicht bis zum Ende auserzählen, am besten. Ihnen allen wohnt eine Spannung inne, die mich von den ersten Zeilen an, wofern nicht um das Leben, so doch um die Seele der Protagonisten hat bangen lassen.

Florian Schneider, Polarstation. Erzählungen, Berlin: periplaneta 2022

Website von Florian Schneider

Klingt Sägelärm vom Forste

Veröffentlicht am 8. März 2023

Du hast ’nen Playsie-Pad aus Gold? Ich bin auf Kettensäge stolz!

Dass Holz sich gut als Brennstoff eignet, hat
Sich unter Eigenheimbesitzern bald
Herumgesprochen; wacker in den Wald
Ziehn sie mit ihren Pick-Ups aus der Stadt.

Mit Spaltaxt, Kettenöl und Sägeblatt
Bewaffnet, kennt ihr Wüten keinen Halt.
Weil ihre Badezimmer niemals kalt
Sein sollen, machen sie die Wälder platt.

Akazien, Buchen, Fichten, Eschen, Eichen:
Im Zweitakt-Dunst gehn splitternd sie zu Boden.
Sie müssen vor der Kettensäge weichen

Und bleiben leblos liegen auf den Soden.
Klingt Sägelärm vom Forste, ist’s ein Zeichen,
Dass Ofen-Eigner uns’re Wälder roden.

Business-Kollektion

Veröffentlicht am 27. Februar 2023
Mit Investoren Businesspläne schmieden
Und sexy Kollektionen für die Massen
Entwerfen täte wohl so manchem passen,
Doch ist’s den meisten von uns nicht beschieden.

Wir haben oftmals sogar ganz vermieden
Und sträflich ignorant es unterlassen,
Mit Modethemen ernst uns zu befassen,
Und hatten trotzdem lange unsern Frieden,

Bis ich vor kurzem in der Zeitung las
Von einer Frau, die Leuten Kleider macht
Und dass ihr das anscheinend großen Spaß

Bereitet und zudem Fortuna lacht.
Und ich sitz müßig hier herum, im Maß-
Anzug, am Achterdeck von meiner Yacht!

Der mit dem Hund tanzt

Veröffentlicht am 15. Februar 2023

Das folgende Sonett soll keinesfalls das Werk eines namhaften deutschen Choreographen beschmutzen:

Was geht in einem Menschen vor, der Scheiße
Von einem Hund in eine Tüte schmiert
Und damit einer Frau Gesicht traktiert,
Nur weil sie seine Tanzrevue verreiße?

Auch wenn des Mannes Weste eine weiße
Bisher gewesen ist und Ruhm ihn ziert,
So hat er seinen Ruf doch ruiniert
Durch solch infames Hundekot-Geschmeiße.

Der Nimbus ist ihm wohl zu Kopf gestiegen,
Der ihn umgibt als Künstler und Genie.
„Was ich erreicht, es will mir nicht genügen“,

Befand er und ersann die Strategie:
„Ich werde meine Kritiker besiegen
Mit einer Kacki-Choreographie.“

Normalerweise

Veröffentlicht am 13. Februar 2023
Normalerweise geht es in Sonetten
Um Liebesdinge, Herzschmerz und dergleichen.
Wen kann man denn mit sowas noch erreichen?
Als ob die Leut' nicht andre Sorgen hätten!

Sie wollen etwas andres lesen, wetten?
Drum soll man solche soften Themen streichen,
Und alle Psycho-Dichter solln sich schleichen,
Sonst ist der Ruf der Dichtkunst nicht zu retten.

Wer dichtet, sollte sich an Straßen kleben
Und dort für ein paar Stündchen kleben bleiben.
Da würd man wirklich einmal was erleben.

Da ließen sich Sonette drüber schreiben.
Ich fühl den Zorn der Menge schon erbeben,
Wenn Dichter derart krassen Unfug treiben.

Adiós, Magellan!

Veröffentlicht am 31. Januar 2023

Mehr als sechs Jahre lang bin ich ihm gefolgt: dem portugiesischen Ritter in spanischen Diensten und Heros der europäischen Seefahrt, Ferdinand Magellan, bin den Spuren nachgegangen, die er und seine verwegene Mannschaft in Archiven hinterlassen haben, bin lesend und recherchierend mit ihnen um die ganze Welt gereist. Früchte dieser Arbeit waren – nebst vielen Artikeln und Radio-Beiträgen – zwei Bücher, die offenbar beide ihre Leserinnen und Leser gefunden haben: die Monographie „Magellan oder Die erste Umsegelung der Erde“, mittlerweile in 4. Auflage bei C.H. Beck Paperback erhältlich, und meine Neuübersetzung von Antonio Pigafettas legendärem Reisebericht, die erste vollständige und originalgetreue ins Deutsche. Unter dem Titel „Die erste Reise um die Welt. An Bord mit Magellan“ erschien sie 2020 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und war kurz vor Weihnachten schon zum zweiten Mal vergriffen (ist aber inzwischen ebenfalls wieder bestellbar).

Das war es, was am Ende zählte: Karte von Maluku aus Antonio Pigafettas Reisebericht mit Gewürznelkenbaum.
Bild: Wikimedia Commons

Diese Geschichte zu erkunden und zu erzählen, war spannend, war lehrreich und hat vor allem mächtigen Spaß gemacht. Aber nach mehr als sechs Jahren ist es nun genug und an der Zeit, sich anderen Dingen zu widmen – oder um es mit einer Metapher aus dem (an Metaphern bekanntlich nicht armen) Reich der Seefahrt zu auszudrücken: Zeit ist es, zu neuen Ufern aufzubrechen.

Wohin die Reise geht, wird noch nicht verraten, nur mit gebührender Rührung Abschied genommen:

¡Que tenga Ud. buen viaje, comendador!

(PS: Ihre Fragen zum Thema beantworte ich, soweit ich kann, natürlich weiterhin: Kontakt.)