Veröffentlicht am 29. Januar 2024
Die Idee, dass sich gesellschaftliche Probleme durch massenhafte Vertreibung von Menschen lösen ließen, ist alles andere als neu. Als sich Anfang des 17. Jahrhunderts im Königreich Spanien die Anzeichen einer politischen und wirtschaftlichen Krise häuften, wurden Stimmen immer lauter, die die Vertreibung der „Moriscos“ forderten. Die Nachkommen der ehemals muslimischen Bevölkerung Spaniens seien schuld am allgemeinen Niedergang, hieß es. Sie müssten daher kollektiv des Landes verwiesen werden, sonst sei Spanien nicht mehr zu retten. Also unterschrieb König Philipp III. im September 1609 das Dekret der Ausweisung …
Weiter lesenDie katholische Kirche hat ihn 1960 zur Ehre der Altäre erhoben: Juan de Ribera, an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert Erzbischof von Valencia. Er war ein gebildeter Mann, ein Vorkämpfer der Gegenreformation, und sein Einfluss reichte weit über die Grenzen seiner Diözese hinaus. Als Erzbischof hatte Juan de Ribera sich nicht zuletzt mit dem Problem der „Moriscos“ auseinanderzusetzen.
Moriscos, „kleine Mauren“, nannte man damals in Spanien die Nachfahren der Muslime, die einst auf der iberischen Halbinsel heimisch gewesen, aber nach ihrer vollständigen Eroberung durch christliche Herrscher gezwungen worden waren, sich taufen zu lassen. Die Moriscos lebten in eigenen Wohnbezirken, unterschieden sich durch Kleidung und Brauchtum, manche auch durch ihre Sprache von der Mehrheit der „alten“ Christen, und standen allgemein im Verdacht, weiter dem Islam anzuhängen.
Im Dezember 1601 adressierte Juan de Ribera ein Memorandum an König Philipp III., in dem er seine jahrzehntelangen Anstrengungen, die Moriscos durch Katechese zu guten Katholiken zu machen, für gescheitert erklärte. Die Moriscos, klagte der Erzbischof, seien noch immer „Mauren, die der mohammedanischen Sekte angehören, die Vorschriften des Korans befolgen und die heiligen Gesetze der Katholischen Kirche missachten“. Schlimmer noch, die Moriscos stünden mit den Feinden Spaniens, allen voran den Türken, im Bunde. Auch am wirtschaftlichen Niedergang des Landes trügen sie Schuld und am Banditentum, welches im Königreich Valencia derartige Auswüchse angenommen habe, „dass Alt-Christen, die in Morisco-Gegenden leben, sich nachts nicht mehr vor die Tür wagen“. Die Moriscos seien wie „verwachsene Bäume, voller Knoten der Häresie“, die man am besten samt den Wurzeln herausrisse. Es gebe keine Alternative: Die Moriscos müssten des Landes verwiesen werden, schloss der knapp siebzigjährige Juan de Ribera, „oder ich werde zu meinen Lebzeiten den Untergang Spaniens mitansehen“.
Im Königreich Valencia zählten die Moriscos damals etwa 130.000 Seelen, rund ein Drittel der Bevölkerung. In allen spanischen Reichen auf der iberischen Halbinsel schätzt man ihre Zahl auf ca. 300.000, bei einer Gesamtpopulation von vielleicht 7 oder 8 Millionen. So viele Menschen auszuweisen, war eine drastische Forderung, egal ob man sie vom Standpunkt der Betroffenen betrachtete oder von dem des Staates, der diesen Massenexodus organisieren sollte. Andererseits machten die Moriscos in Summe nicht einmal fünf Prozent der Bevölkerung aus. Wie konnte diese Minderheit einen Kirchenfürsten wie Juan de Ribera derart in Verzweiflung treiben, dass er glaubte, nur ihre Ausweisung könne Spanien noch retten?
Dass Muslime – und ehemalige Muslime – unter christlicher Herrschaft lebten, war an sich nichts Neues. Im Gegenteil, auf der iberischen Halbinsel war es trotz „Reconquista“ jahrhundertelang der Normalfall gewesen, so wie auch muslimische Herrscher christliche Untertanen tolerierten. Die Kunst Andalusiens kündet noch heute von dieser „Convivencia“, dem Zusammenleben der Religionen im Mittelalter, auch wenn man sich dieses Zusammenleben nicht allzu idyllisch ausmalen sollte. Aber wenn es auch prekär war und immer wieder von Phasen des Krieges unterbrochen wurde – es funktionierte, über Jahrhunderte hinweg.
Erst als die Katholischen Könige Ferdinand und Isabella ihre Reiche vereinten und das Emirat Granada, die letzte muslimische Hochburg auf der Halbinsel, eroberten, also erst mit der Gründung des modernen spanischen Staates setzte sich die Idee durch, dass dessen Untertanen alle dieselbe katholische Religion ausüben sollen. Um diese Idee zu verwirklichen, führten die Monarchen 1478 die Inquisition ein, 1492 ließen sie die Juden ausweisen und 1502 zwangen sie die Muslime Granadas, sich taufen zu lassen oder das Land zu verlassen. Im Jahr 1526 – da herrschte bereits Kaiser Karl V. über Spanien – erging dieselbe Forderung an die Muslime in Valencia und Aragón, die dem Kaiser jedoch für viel Geld das Zugeständnis abkauften, eine gewisse Zeit an ihren Bräuchen festhalten zu dürfen. So entstand das Morisco-Problem einer nicht assimilierten, von der christlichen Mehrheitsgesellschaft misstrauisch beäugten Minderheit.
Freilich war diese Minderheit höchst heterogen. Während in entlegenen Gebirgsregionen wie den Alpujarras viele Moriscos tatsächlich der Religion ihrer Vorfahren treu blieben, nahmen andere das ihnen aufgezwungene Christentum an. Gemeinsam war jedoch allen, dass sie den unteren Schichten der Gesellschaft angehörten. Die meisten Adligen und Reichen unter ihnen, vor die Wahl gestellt zwischen Zwangstaufe und Emigration, hatten Spanien den Rücken gekehrt.
Auch die Einstellung der Alt-Christen zu den Moriscos war alles andere als einheitlich. Der Hochadel des Königreichs Valencia, dessen Ländereien vorwiegend von Moriscos bewirtschaftet wurden, wollte von der Ausweisung dieser wertvollen Arbeitskräfte nichts wissen. Auch in der Kirche gab es moderate Stimmen, die um Geduld mit den „neuen“ Christen warben. Doch je mehr das 16. Jahrhundert voranschritt, desto schriller klang der Diskurs. Die Moriscos wurden zunehmend als bedrohlicher Fremdkörper wahrgenommen. Sie vermehrten sich rascher als die Alt-Christen, hieß es, und bildeten eine fünfte Kolonne im Hinterland, die mit den zahlreichen Feinden Spaniens paktiere.
Da sie von vielen Berufen ausgeschlossen waren, war es kein Wunder, dass immer mehr Moriscos sich zum Lebensunterhalt auf den Straßenraub verlegten – insofern waren die Klagen des Erzbischofs nicht unbegründet. Gegner des valenzianischen Hochadels befürworteten die Ausweisung, weil sie hofften, diesem damit die Existenzgrundlage zu entziehen. Und im Ausland mehrten sich Stimmen, die Spaniens Selbstbild als Bollwerk des Katholizismus infrage stellten, weil es im Land so viele Ungläubige dulde. Militärische Desaster wie die Armada von 1588 gegen England und eine Reihe von Staatsbankrotten bestärkten so manchen im Gefühl, dass es mit dem spanischen Weltreich bergab ging – und dass die Ausweisung der Moriscos die einzige Rettung wäre. Juan de Ribera war nicht einmal der Extremste unter ihnen. Ein anderer Bischof schlug vor, die Moriscos zu kastrieren und nach Neufundland zu deportieren, wo sie ein gnädiger Tod ereilen mochte.
Nach jahrelangen Diskussionen ließ König Philipp III. im September 1609 das Dekret der Ausweisung verkünden – vielmehr der Vertreibung, denn viele Moriscos weigerten sich, ihre Heimat zu verlassen. Sie verschanzten sich in den Bergen, und der spanische Staat ließ tausende Soldaten aufmarschieren, die an den Widerstrebenden – Männern, Frauen und Kindern – Massaker verübten und sie an die Küsten trieben, wo schon die Galeeren warteten. Kinder wurden ihren Eltern entrissen und katholischen Familien zugewiesen. Viele Moriscos zogen der Vertreibung den Selbstmord vor, andere wurden Opfer des Meeres oder von Korsaren. Jene aber, die Nordafrika erreichten, erwartete kaum ein besseres Schicksal. Sie fielen Banditen in die Hände, die sie ausplünderten, vergewaltigten, ermordeten, und verhungerten zu Tausenden.
Als die spanische Krone die Vertreibung nach fünf Jahren für vollzogen erklärte, waren weite Landstriche entvölkert, war der ökonomische Schaden vor allem in den Königreichen Valencia und Aragón immens. Juan de Ribera hat diesen Moment nicht mehr erlebt. Er starb 1611. So blieb es ihm erspart, den Niedergang Spaniens mitanzusehen. Mit dem Weltreich ging es weiter bergab – auch nachdem die Sündenböcke vertrieben waren.
Dieser Text erschien erstmals am 22. April 2019 in der Furche.