Veröffentlicht am 8. September 2021
In den Ferien kam aus Deutschland das Patenkind meiner Frau zu Besuch: ein weltoffenes, munteres Mädchen von 15 Jahren mit durch und durch positiver Lebenseinstellung. Egal, was man sie fragte – Hast du gut geschlafen? Magst du noch eine Semmel? Spielst du mit Karten? –, die Antwort lautete stets: „Alles gut!“ Auch als ihre Heimfahrt mit der Bahn sich um einen Tag verzögerte, weil ein gewisser Herr Weselsky seine Lokführer in den Streik gerufen hatte, meinte sie nur: „Alles gut!“
Wenige Tage später saßen wir, nunmehr ohne Patenkind, in der Osnabrücker Hütte am Tisch mit einem Bergwanderer aus Unterfranken. Im Lauf des Abends verließ unser Tischgenosse mehrmals seinen Platz auf der Eckbank, und damit er sich leichter täte, seine für einen Bergwanderer beachtliche Leibesfülle zwischen der Rückenlehne meines Stuhls und der Holzwand der Gaststube hindurch zu bringen, rückte ich jedes Mal mit dem Stuhl etwas nach vorn, was er immer wieder mit der Aussage quittierte: „Alles gut!“
Das musste eine neue Mode sein in Deutschland: zu erklären, dass „alles gut“ sei. In Österreich war uns dergleichen noch nicht aufgefallen. Aber in Österreich ist sowieso immer „alles gut“. Man muss es nicht immerzu bestätigen.
Die letzte Reise dieses Sommers führte uns unlängst nach Ostwestfalen, in die alte Heimat. Wir fuhren mit der Bahn, obwohl die Fahrkarten viermal so viel kosteten wie der Diesel, den unser alter Dacia auf 2000 km Hin- und Rückweg verbrennt. Für den Dacia sprach diesmal auch, dass Herr Weselsky weitere Streiks seiner Lokführer angedroht hatte. Da bucht man nicht ohne Not einen Fernzug. Aber mit einem Dacia, zumal einem alten, die deutsche Autobahn zu befahren, ist kein Spaß. Davon abgesehen denken wir oft mit Sorgen an die Umwelt und das Klima. Und Bahnfahren soll bekanntlich beides schonen.
Mit der Bahn also, trotz allem. Und die Wahl schien sich auszuzahlen. Der zweite Streik ging vorbei, und der Zug fuhr. „Alles gut“, antworteten die beiden jungen Frauen in unserem Waggon, als wir sie baten, mit uns Plätze zu tauschen, damit wir zu viert zusammensitzen könnten. „Alles gut“, sagte der Schaffner bei der Fahrkartenkontrolle, als ich ihm sagte, dass meine Tochter gerade nicht am Platz sei. Und als wir in Hannover trotz reichlicher Verspätung unseren Anschlusszug erreichten, frohlockten wir: „Alles gut!“
„Alles gut“, dachten wir uns auch, als Herr Weselsky seinen nächsten Streik ankündigte. Hatten wir doch in weiser Voraussicht unsere Rückfahrt um einen Tag vorverlegt, sodass wir gerade noch rechtzeitig vor Streikbeginn nach Österreich zurückkehren würden. Doch der ICE, der uns von Bielefeld nach Hannover bringen sollte, kam und kam nicht und fiel dann aufgrund technischer Probleme ganz aus. Der folgende ICE hatte – wegen einer „polizeilichen Ermittlung“ – so viel Verspätung, dass wir den Nachtzug nach Wien, obwohl auch der verspätet war, verpasst hätten und spätabends in Hannover gestrandet wären, kurz bevor Herrn Weselskys Streik die Bahn vollends lahmlegen würde. Also stiegen wir gar nicht erst in den ICE.
Was tun? Unser Dacia stand in Österreich. Zum Glück konnten wir uns von Verwandten ein Auto borgen. Und so verbrachte ich die Nacht statt auf einer Liege im Zug am Steuer eines Mercedes A-Klasse, in dem wir durch scheinbar endlose Baustellen, vorbei an ebenso endlosen LKW-Kolonnen zurück nach Hause fuhren. Dort kamen wir zur selben Zeit an, als wenn wir den Zug genommen hätten.
Ende gut. Alles gut?