Völkerfreundschaft im Klassenzimmer

Veröffentlicht am 21. Februar 2022

Unsere Tochter lernt seit Beginn dieses Schuljahrs Russisch. Das Curriculum ihrer Schule verlangt eine dritte Fremdsprache. Französisch und Russisch standen zur Wahl. Ich glaube, dass sie sich aus Neugier für Letzteres entschieden hat. Russisch war für sie exotischer und damit interessanter.

Als der Kurs zusammentrat, zeigte sich, dass nur drei von 15 Schülerinnen und Schülern als Muttersprache Deutsch hatten. Die anderen sind mit zumeist slawischen Sprachen aufgewachsen, einzelne mit Russisch. Auch die Lehrerin ist Russin, im übrigen eine liebe Frau und engagierte Pädagogin, sodass das neue Fach unserer Tochter bald Spaß zu machen begann.

Doch die Freude ist mittlerweile verflogen. Das liegt weder an der Lehrerin noch an der Klasse oder etwa schulischen Misserfolgen. Vor ein paar Tagen sagte unsere Tochter beim Abendbrot, dass sie keinen Sinne darin sehe, die Sprache eines Landes zu lernen, das „solche Sachen macht“. Mit „solchen Sachen“ meinte sie den massenhaften Aufmarsch russischen Militärs an den Grenzen zur Ukraine. Was auch immer der Grund für diesen Aufmarsch ist, die russische Militärmaschinerie wirkt bedrohlich und gibt alles, nur kein sympathisches Bild ab.

Wir haben unserer Tochter gesagt, dass man unterscheiden müsse zwischen dem russischen Volk und der russischen Regierung. Was auch immer die Regierung im Sinn habe, die meisten Menschen in Russland wollten so wie wir in Frieden leben. Es seien nach unserer Erfahrung sehr herzliche, gastfreundliche Menschen, und es lohne bestimmt, ihre Sprache zu lernen.

Aber warum, fragte unsere Tochter, würden die Menschen in Russland dann zulassen, dass ihre Regierung andere Staaten bedroht? Warum würden die russischen Soldaten tun, was ihre Regierung sagt?

Darauf wussten wir keine rechte Antwort. Wir fragten unsere Tochter, ob sie schon im Unterricht über die Situation gesprochen hätten. Sie sagte, nur mit ihren Freundinnen, aber nicht mit der ganzen Klasse. Sie habe den Eindruck, dass die Lehrerin vermeide, über die politische Lage in Russland zu reden, vermutlich aus Angst, dass die Diskussion eskalieren könnte. Einige in der Klasse kämen nämlich aus Polen und der Ukraine, andere aus Russland, und die Stimmung sei ziemlich angespannt.

Was auch immer die russische Regierung in der Ukraine zu gewinnen hofft, die Herzen in Europa gewinnt sie damit kaum auch nicht unter den wenigen jungen Menschen, die hierzulande Russisch lernen. Aber wozu auch braucht eine Großmacht wie Russland Freunde an einem Wiener Gymnasium?

Ergänzung am 1. März 2022

Als das Vorstehende geschrieben wurde, Anfang vergangener Woche, wollte auch ich noch nicht glauben, dass die russische Regierung Ernst machen und die Ukraine mit einem vorgestrigen Landkrieg überziehen würde. Seit dem Tag des Angriffs wird in der Russisch-Klasse unserer Tochter endlich über all das geredet, ausgiebig und offen. Die Oma einer Schülerin sitzt in Kiew, sitzt im Wortsinn, denn sie ist an den Rollstuhl gefesselt und kann nicht in den Luftschutzkeller fliehen. Die  Lehrerin erzählt von einer Freundin in Russland, deren Sohn zum russischen Militär eingezogen wurde und die seit Tagen vergeblich in Erfahrung zu bringen versucht, wo ihr Sohn ist und wie es ihm geht. Schülerinnen und Lehrerin sprechen über ihre Ängste und ihren Schmerz. Es ist nur ein schwacher Trost – aber immerhin ein Trost, dass wenigstens in dieser Schulklasse kein Krieg herrscht.

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