Veröffentlicht am 4. Juni 2024
Eigenes Gemüse zu ziehen, ist ein Sehnsuchtsort vieler Menschen. Die Hände im Humus, den sorgenden Blick zarten Pflänzchen zugewandt, suchen sie nach ihrem beim Geldverdienen abhanden gekommenen inneren Selbst. Und dann wollen sie die Früchte genießen, die Mutter Natur freigiebig denen schenkt, die im Einklang mit ihr tätig sind.
Auch ich habe über Jahrzehnte versucht, dieses grüne Utopia in unserem Garten zu verwirklichen, dafür viel Zeit investiert – und nicht wenig Geld, denn die Produktpalette, die Baumärkte und Discounter für den biologischen Privatanbau anbieten, ist groß. Je größer aber das Investment, desto ärgerlicher natürlich, wenn man um den Ertrag seiner Mühen gebracht wird durch Mitesser, die selbst nicht säen, jedoch umso eifriger ernten. So wie die Nacktschnecken, die (angeblich aus Spanien) ihren Weg auch in unseren Garten gefunden haben.
Dass Arion vulgaris sich bei uns so wohlfühlt, ist einerseits der Lage unseres Gartens am feuchten Grund nahe eines Baches und in der schattigen Nachbarschaft alter Bäume geschuldet. Aber ich leiste seinem evolutionären Erfolg, fürchte ich, noch Vorschub mit meiner liberalen Einstellung gegenüber allem, was wächst. In unserem Garten herrscht ordentlich Wildwuchs, in dem nicht nur das Unkraut, sondern auch die Nacktschnecken gedeihen.
Nun stößt aber naturgemäß jedes „Leben und leben lassen“ da an Grenzen, wo die anderen das Eigene nicht leben lassen – und sei es auch, wie in diesem Fall, nicht das eigene Leben, sondern nur das eigener Gemüsekulturen, auf die sich die unersättlichen Bauchfüßer mit Vorliebe stürzen, solange sie noch jung sind, um sie rest- und rücksichtslos zu vertilgen.
Ob Spinat oder Salat, Erdbeeren oder Erbsen, Kürbis- oder Gurkensetzlinge, Tomaten, Bohnen, ja sogar über Chili- und Kartoffelpflanzen machen sie sich her und lassen von ihnen nichts übrig als glänzende Schleimspuren am Boden.
Wer lässt sich so etwas schon gern gefallen?
Also bin ich zur Bekämpfung der Nacktschnecken aus-, bin ihnen mit Bierfallen und Schneckenkorn zu Leibe gerückt, habe sie wochenlang Abend für Abend im Licht der Stirnlampe eingesammelt, oft genug von Mücken gepeinigt, nicht selten im strömenden Regen, habe alles ausprobiert, die Schädlinge unschädlich zu machen: sie entzwei geschnitten, mit kochendem Wasser übergossen, ins Lagerfeuer geworfen, in Marmeladengläser gefüllt und in der Sonne stehen gelassen, bis sie sich zu einem stinkenden Sud zersetzt hatten … Auch habe ich Eierschalen und Lavagranulat ausgestreut, Schneckenzäune und Hochbeete errichtet in der Hoffnung, die lusitanischen Leckermäuler von meinen Kulturen fernzuhalten, und endlich, des ewigen Kampfes und Tötens müde, sogar Indische Laufenten angeschafft, von denen man sagt, sie seien die größten Fressfeinde der Nacktschnecken.
Doch obwohl wir zeitweilig zehn solcher Enten im Garten hielten, wurden auch sie der Plage nicht Herr, denn so eine Ente frisst vielleicht ein Dutzend Schnecken am Tag (nebst Spinat, Salat und anderen Dingen), im späten Frühjahr jedoch, zur Anbauzeit, fallen die gierigen Gastropoden in Heerscharen zu Tausenden und Abertausenden über unseren Garten her, tummeln sich auf dem Rasen, den Wegen, Komposthaufen und Beeten, kriechen in den Nächten, wenn es abkühlt, die noch warme Hauswand hinauf, ihren Kot hinterlassend, und überziehen die Fenster mit sich kreuzenden Schleimspuren, sodass wir uns zeitweilig wie unter Belagerung fühlen.
Gegen eine solche Invasion können auch ein paar Laufenten nichts ausrichten, und so haben wir, nachdem eines dämmrigen Novembernachmittags mutmaßlich ein Fuchs drei unserer damals noch vier Enten gerissen hatte, die Hinterbliebene einer Nachbarin geschenkt und uns keine neuen mehr angeschafft.
Heute bin ich frei.
Eines Abends, als ich wieder einmal über meinen Beeten hockte, Schnecken einsammelte und sie – weil ich sie schon lange nicht mehr töten mag – kurzerhand über den Zaun auf den brachliegenden Acker nebenan warf, im Wissen, dass die Schnecken von dort wieder in unseren Garten kriechen würden, sodass es eigentlich ein sinnloses Unterfangen war, sie dorthin zu werfen, aber ich dachte, auf diese Weise gewönnen meine Pflänzchen etwas Zeit, die ihnen – oder wenigstens einigen von ihnen – vielleicht so gerade eben erlauben würde, über die kritische Phase des Keimens hinauszuwachsen – während ich also dort hockte und Nacktschnecken aufklaubte, erkannte ich, dass diese schleimigen Tiere nicht viel anders sind als wir Menschen, oder besser gesagt: wir Menschen nicht anders als sie.
Auch wir fallen über diesen Planeten her, haben keine Fressfeinde mehr, sind unersättlich, wollen immer nur das Beste für uns, und der ökologische Fußabdruck, den wir hinterlassen, ist noch viel schlimmer als die Schleimspuren der Bauchfüßer.
Ich erkannte: Die Nacktschnecke ist unser Alter Ego und sie ist unsere Nemesis. Und in dem Augenblick beschloss ich aufzugeben, den Gemüseanbau für immer sein und den Garten den Schnecken zu überlassen. Seither geht es mir besser. Seither bin ich mit der Natur versöhnt, und mein Gemüse kaufe ich im Supermarkt.