Eine Spurensuche in der Schweiz
Veröffentlicht am 16. November 2023
Zugegeben, es ist keine weltbewegende Frage, aber ich interessiere mich nun mal für die Menschen, deren Bücher ich lese, und noch mehr, wenn ihre Biographien vom Schleier des Rätselhaften umgeben sind. So habe ich mich schon oft gefragt, wer eigentlich Oscar Koelliker war. Koelliker hat vor mehr als hundert Jahren ein dickes Buch veröffentlicht: „Die erste Umseglung der Erde durch Fernando de Magallanes und Juan Sebastian del Cano 1519-22 dargestellt nach den Quellen“ (Piper Verlag, München 1908). Dieses Werk aufzuschlagen, lohnt noch immer, nicht nur weil es prächtig ausgestattet ist mit Karten und Bildern, sondern auch weil es viele historische Quellen zu Magellans Expedition in deutscher Übersetzung bietet.
Man möchte daher meinen, der Verfasser sei Geograph oder Historiker von Beruf gewesen. Das ist jedoch kaum wahrscheinlich …
Weiter lesenDenn wäre Oscar Koelliker berufsmäßiger Wissenschaftler gewesen, hätte er wohl mehr einschlägige Publikationen hinterlassen als dieses eine Buch. Nur ein weiteres Mal noch tritt er kurz in Erscheinung als Mitarbeiter von „Petermanns Geographischen Mitteilungen“. Für den 58. Band dieser traditionsreichen Zeitschrift trug er 1912 zwei Rezensionen und eine Miszelle bei, die alle um dasselbe Thema kreisen wie das Buch: die Erdumsegelung Magellans und Elcanos. Im Mitarbeiterverzeichnis von Petermanns Mitteilungen ist der Autor als „Koelliker, Oskar [sic!], Thalwil-Zürich“ aufgeführt, ohne akademischen Titel oder Berufsbezeichnung.
Oscar bzw. Oskar Koelliker scheint also ein echter „homo unius libri“ gewesen zu sein: ein Mann, der nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein Buch geschrieben hat. In dessen Vorwort steht denn auch alles, was wir sicher über ihn wissen: dass der Verfasser im Frühjahr 1908 in Thalwil bei Zürich lebte (oder weilte) und dass er sich viele Jahre „in Spanien, Portugal, Italien, Nord- und Südamerika“ aufgehalten hatte, „wo sich“ ihm, wie er schrieb, „die Gelegenheit bot, die einschlägige Literatur“ zur Magellan-Expedition „in den Urtexten zu studieren und zu sammeln“. Das war‘s.
Thalwil (früher auch Thalweil geschrieben) liegt am linken Ufer des Zürichsees. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich das Bauerndorf in eine boomende Kleinstadt verwandelt. Bevölkerung und Wohlstand wuchsen rasant, vor allem dank einer florierenden Textilindustrie und einer Bahnlinie in die nur wenige Kilometer entfernte Kantonshauptstadt.
Der Nachname „Kölliker“ war hier seit alters geläufig, die Kombination mit dem Vornamen „Oscar“ jedoch eher selten. Und noch seltener, wenn der Träger 1908 alt genug gewesen sein soll, um dicke Bücher zu schreiben. Einen Kandidaten, der diese Voraussetzung erfüllt, hat Karl-Heinz Wionzek dingfest gemacht[1]: einen 1868 in Horgen bei Zürich geborenen Künstler, der Ende des 19. Jahrhunderts nach St. Petersburg auswanderte und sich 1907 in Frankreich niederließ, zunächst in Asnières (sur-Seine) und ab 1914 in Paris. Er ist in J.P. Zwickys „Genealogie der Familien Kölliker“[2] (unter Nr. 185) als „Oskar Kölliker … Bürger von Thalwil“ aufgeführt und in Thieme-Beckers „Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler“[3] als „Oscar Koelliker“, hier allerdings mit Geburtsort Neuchâtel.
Der Maler Oscar Koelliker/Oskar Kölliker nahm seinerzeit an großen Ausstellungen teil, so etwa 1907, 1910 und 1912 in den Salons der Société des Artistes Indépendants, der Société des Artistes Français 1908 und 1914 sowie in weiteren, in Frankreich und der Schweiz. Am 9. September 1941 vermeldeten die „Nouvelles de Versailles“ sein Ableben im Alter von 72 Jahren[4]. Im Internet findet man einige seiner Werke, durchweg kleinformatige Landschaften in Öl, im Stil des Impressionismus, die offenbar auch heute noch ihre Käufer finden.
Doch wie wahrscheinlich ist, dass ein Künstler, der 1907 und 1908 in Pariser Salons ausstellte, und der Verfasser eines geographisch-historischen Sachbuchs, das 1908 in München erschien, identisch sind? Wenn sie es wären: Warum findet sich dann im Buch keinerlei Verweis auf die künstlerische Tätigkeit des Autors? Müssten nicht stilistische Bezüge zwischen Buch und Malerei erkennbar sein? Warum unterschreibt Kölliker das Vorwort seines Buches mit „Thalwil-Zürich, im Frühjahr 1908“, wenn er zu diesem Zeitpunkt in Asnières lebte und nicht einmal in Thalwil geboren war? Warum findet sich auch im Mitarbeiterverzeichnis von Petermanns Geographischen Mitteilungen wieder nur die Angabe „Thalwil-Zürich“? Wie wahrscheinlich ist zuletzt, dass ein Maler ausgerechnet zu derselben Zeit, da er seinen künstlerischen Durchbruch feiert, eine nicht minder beachtliche Fleißarbeit auf dem Gebiet der Geographiegeschichte abliefert?
In einer Rezension des Buches, die im Dezember 1908 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien, wird der Verfasser jedenfalls nur „Zürcher aus Thalwil“ und „unser Landsmann“ genannt. Von seiner künstlerischen Karriere in Frankreich wusste der Rezensent nichts zu berichten …
J.P. Zwickys „Genealogie der Familien Kölliker“ verzeichnet (unter Nr. 253) einen „Johann Oscar Kölliker“, der gleichfalls Bürger von Thalwil und dort auch wohnhaft war: „im Freihof, am See“. Dieser Johann Oscar Kölliker lebte von 1866 bis 1916 und war von Beruf Kaufmann. 1895 heiratete er Anna Huber aus Hirzel, mit der er zwei Töchter hatte. Neben seinem kaufmännischen Beruf betätigte er sich auch als Politiker, und er ließ sich offenbar mit seinem zweiten Vornamen anreden, denn von 1911 bis 1915 war ein „Oskar Kölliker“ aus Thalwil, geboren 1866 und verheiratet mit einer Huber, Mitglied des Zürcher Kantonsrats. Den Protokollen dieser Körperschaft ist auch zu entnehmen, welche Art von Handelsgeschäft Oskar Kölliker betrieb, nämlich eine „Weinhandlung“.
Die Weinhandlung des (Johann) Oskar Kölliker, der sich nach seiner Gattin auch „Kölliker-Huber“ nannte, dürfte mehr oder weniger ein Selbstläufer gewesen zu sein. Sonst hätte ihr Inhaber kaum so viel Zeit für sein vielfältiges gesellschaftliches Engagement erübrigen können. Schon 1902 hatte Kölliker-Huber, wenn auch erfolglos, für den Zürcher Kantonsrat kandidiert. Davor war er bereits Mitglied des Gemeinderats von Thalwil, wo er sich nicht nur praktischen Angelegenheiten widmete wie der Errichtung einer kommunalen Wasserleitung, sondern oft auch repräsentative Pflichten wahrnahm, sei es, dass er bei der Einsegnung der katholischen Kirche von Thalwil 1899 den Geist der Ökumene beschwor oder dem „Gemischten Chor Thalwil“, als der mit einem Festakt im Hotel zur „Krone“ sein 75jähriges Jubiläum beging, die Glückwünsche der Gemeinde aussprach.
Überhaupt scheint Oskar Kölliker dem Feierlich-Musischen alles andere als abhold gewesen zu sein: ob Thalweil-Festspiel, Turn- oder Seesängerfest – der Weinhändler war stets vorne mit dabei, verkaufte Eintrittskarten, präsidierte in Organisationskomitees, hielt Reden, überreichte Fahnen und Lorbeerkränze, und als bei der „Schlußsitzung der Komitees für das kantonale Turnfest“ im Restaurant „Concorda“ noch „ein kleinerer Ueberschuß an Ehrenwein vorrätig war, entwickelte sich unter dem Vorsitze … des Präsidenten des Wirtschaftskomitees Herrn O. Kölliker noch einmal ein schönes Festleben, während dessen man sich der schönen Stunden des Turnfestes fröhlich erinnerte“. Bei all den Festivitäten vernachlässigte Oskar Kölliker offenbar weder seine bürgerlichen Pflichten – 1905 saß er in Winterthur, 1906 im benachbarten Pfäffikon als Geschworener im Gerichtssaal – noch seine Geschäfte. 1905 erschien im Zürcher Satireblatt „Nebelspalter“ zweimal folgende Anzeige:
Demnach importierte die Weinhandlung Kölliker direkt aus den Erzeugerländern, darunter aus Spanien (Malaga, Sherry), Portugal (Port, Madeira), Italien (Marsala) und Frankreich (Bordeaux). In welchen Sprachen wohl die Geschäftskorrespondenz geführt wurde? Halten wir einstweilen fest, dass Oskar Köllikers Geschäftspartner dieselben Sprachen sprachen, in denen auch die „Urtexte“ und „einschlägige Literatur“ zur Magellan-Expedition verfasst waren, welche ja die Grundlage für Oscar Koellikers Buch von 1908 bildeten.
Dass Oskar Kölliker, der Weinhändler, in seiner Jugend eine gründliche Ausbildung in modernen Fremdsprachen erhalten haben dürfte, darauf deutet eine andere Anzeige hin, die im April 1884 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ geschaltet wurde:
Zum oder im „Freihof“ war der Wohnsitz Oskar Köllikers, der im April 1884 seinen 18. Geburtstag feierte. Sein Vater Johannes (1820-1891) war gleichfalls Kaufmann[5], handelte unter anderem in größerem Stil mit Kartoffeln[6]. Natürlich könnte Johannes Kölliker die Vermittlung von Schülern an das „Knabeninstitut Schmutz-Rolland“ am Genfer See einfach so als Nebengeschäft betrieben haben. Aber ist es nicht wahrscheinlicher, dass er auch seinen (einzigen) Sohn zur Ausbildung in dasselbe Institut gab, für das er als Vermittler tätig war? Zumal ja dessen Lehrangebot – „Hauptstudium: Französisch, Italienisch, Englisch und kaufmännische Fächer“ – perfekt auf das Anforderungsprofil eines zukünftigen Weinimporteurs zugeschnitten war.
Ob nun Absolvent des Instituts Schmutz-Moccand oder nicht – jedenfalls dürfte Oskar Kölliker, der Weinhändler, seine schulische Ausbildung Mitte der 1880er Jahre beendet haben. Demnach wäre ihm bis zu seiner Heirat mit Anna Huber im Dezember 1895 reichlich Zeit geblieben für jene langjährigen Aufenthalte „in Spanien, Portugal, Italien, Nord- und Südamerika“, von denen Oscar Koelliker, der Buchautor, im Vorwort schreibt. Und für einen angehenden Weinimporteur wäre es ja auch naheliegend gewesen, Reisen in Wein produzierende Länder zu unternehmen – um Sprach- und Fachkenntnisse zu vertiefen und um Geschäftskontakte zu knüpfen.
An den finanziellen Mitteln für solche Reisen wird es jedenfalls kaum gefehlt haben, denn die Familie Kölliker war allem Anschein nach wohlhabend. 1902 stellte O. Kölliker-Huber „umständehalber billig ein neueres Wohnhaus mit 4 Wohnungen und Werkstatt“ in Zürich zum Verkauf. Kurz zuvor hatte er zusammen mit einem „H.Huber-Welti“ – womöglich einem Verwandten seiner Frau? – das noch heute bestehende „Restaurant Waldhaus“ bei Station Sihlbrugg wahlweise zum Verkauf oder zur Vermietung inseriert. Und 1905 wurde O. Kölliker-Huber als Mitglied des Verwaltungsrats der „Aktienbrauerei Zürich“, des nachmaligen „Löwenbräu“, wiedergewählt.
Weinhändler, Bieraktionär, Immobilienbesitzer, Gemeinde- und Kantonsrat, Schöffe, Organisator von Festspielen, Turn- und Seesängerfesten … Oskar Kölliker aus Thalwil war offenbar ein vielseitiger Mensch und ein rechter Gschaftlhuber, dem man auch zutrauen würde, dass er ein Buch wie „ Die erste Umseglung der Erde durch Fernando de Magallanes und Juan Sebastian del Cano 1519-22“ publiziert hat. Kölliker müsste das Buch nicht einmal selbst geschrieben, er könnte auch einen Ghostwriter beauftragt haben. Allerdings sind ihm als Weinimporteur die nötigen Sprachkenntnisse ohne weiteres zuzutrauen, wie er auch die im Vorwort erwähnten Reisen unternommen haben könnte; zugleich verfügte er als wohlhabender Kaufmann anscheinend über die nötige Muße, um sich neben seinen Geschäften auch anderen Dingen zu widmen. Somit besteht kein Anlass, dem umtriebigen Weinhändler Oskar Kölliker die Autorschaft des Buches abzusprechen.
Auch sein frühes Ableben – Kölliker starb 1916 gerade 50jährig[7] – widerspricht dieser Hypothese nicht, datieren seine beiden einzigen Publikationen über Magellan doch von 1908 und 1912. Danach hat man nichts mehr von Oscar Koelliker, dem Buchautor, gehört.
- [1]Karl-Heinz Wionzek (Hrsg.), Another Report about Magellan’s Circumnavigation of the World. The Compilation by Fernando Oliveira. Revised and Expanded Edition, Manila 2021, S. 20 Anm. 18.
- [2]Familiengeschichtlicher Fachverlag J.P. Zwicky, Thalwil 1933.
- [3]Bd. 21, Leipzig 1927, S. 138.
- [4]Den Hinweis auf den Todesvermerk in den Nouvelles de Versailles gab mir der Wikipedia-Autor Mautpreller.
- [5]J.P. Zwicky, Genealogie der Familien Kölliker, Nr. 220.
- [6]Eine Ähnliche Anzeige findet sich auch in der NZZ vom 14.10.1877.
- [7]Im August 1915 trat O. Kölliker als Mitglied des Zürcher Kantonsrats zurück. Siehe auch die Notiz in der NZZ vom 16.08.1915.