Es ist eine Weile her, da las ich in der Zeitung ein Interview mit dem vormaligen Chef einer der größten österreichischen Banken. Nach Jahrzehnten verantwortungsvoller Tätigkeit an der Spitze seines Instituts war der Mann kürzlich in Pension gegangen und wollte sich nun dem Aufbau einer Stiftung widmen, die den löblichen Zweck hat, das allgemeine Niveau finanzieller und kaufmännischer Bildung zu heben. Diese lasse nicht nur in Österreich zu wünschen übrig, klagte der Interviewte und setzte hinzu: „Denn finanzielle Gesundheit“ sei „nach der physischen Gesundheit das Zweitwichtigste.“
So ist das also, dachte ich mir damals: Wenn einer nicht alle Tassen im Schrank hat, ist das anscheinend halb so wild, solange nur seine Leber gesund und sein Bankkonto gut gefüllt ist. Geistige oder psychische Gesundheit, um von seelischer gar nicht zu reden, schien für diesen Herrn kein nennenswertes Gut zu sein. Und ich fragte mich, ob sein Denken repräsentativ sei für Menschen seines Schlages, die als Führer der größten Firmen des Landes maßgeblichen Einfluss auf den Kurs der österreichischen Wirtschaft, ja der Gesellschaft insgesamt ausüben.
Heute neige ich dazu, diese Frage zu bejahen. Schaue ich mir nämlich an, nach welchen Prioritäten hierzulande, aber auch anderswo der Kampf gegen das Coronavirus geführt wird, so habe ich den Eindruck, dass es in diesem Kampf nur darum geht, das physische Überleben der Bevölkerung zu sichern und die Wirtschaft irgendwie am Laufen zu halten. Dafür stehen scheinbar unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Bildung, Kultur, überhaupt alles, was sonst Menschen geistig und psychisch stärkt, spielt dagegen so gut wie keine Rolle. Schulen werden zu- und Heranwachsende monatelang zu Hause eingesperrt, ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen. Sportvereine lahmgelegt. Kinos, Theater, Bibliotheken, Museen und Konzertsäle verschlossen. Familien voneinander getrennt, Alte abgesondert und Sterbende allein gelassen.
Nein, auch ich habe keine Patentlösung parat. Aber je mehr die „Krise“ zum Normalzustand wird, desto deutlicher erkenne ich, was in unserer Gesellschaft wirklich von Belang ist. Kinder, ihre Zukunft, Bildung, Kultur und überhaupt das innere Glück der Menschen zählen offensichtlich nicht dazu. Es offenbart sich das Menschenbild einer Politik, die die Stimmungen der breiten Masse und die Interessen einer kleinen Minderheit bedient.
Thomas Haunschmid hat für den österreichischen Kultursender Ö1 eine Besprechung meiner Neuübersetzung von Antonio Pigafettas Weltreisebericht produziert:
Da die erste Auflage des Buches schon ausverkauft ist, kann man es zur Zeit nur als Book on Demand oder eBook erwerben. Wie mir jedoch versichert wurde, ist eine Neuauflage in Vorbereitung.
Wir können den Kindern nicht alle Wünsche erfüllen, auch nicht zu Weihnachten. Sie werden heuer wieder keinen Hund bekommen, obwohl ein Vierbeiner ganz oben auf beider Wunschzettel stand. Auch ein anderer Wunsch wird leider nicht in Erfüllung gehen: weiße Weihnachten. Aber das ist ja nichts Neues. Außerdem haben unsere Kinder das Alter magischen Denkens und des Glaubens an die grenzenlose Macht der Eltern längst hinter sich gelassen. Neu ist allerdings, dass ein weiterer Herzenswunsch, der sonst zum Jahreswechsel wahr zu werden pflegt, diesmal unerfüllt bleiben muss: die Großeltern und Cousins im fernen Deutschland wiederzusehen. Das heißt, Sehen wäre ja nicht das Problem, dank Zoom, Skype & Co. Aber wie die Tochter sagt: Das ist nicht dasselbe. Sie hat recht, finde ich.
Es folgt ein Bekenntnis:
Ich bin kein Corona-Leugner. Ich trage keinen Aluhut und fürchte nicht, dass ein philantropischer Milliardär aus Seattle uns alle zwangsimpfen will. Ich halte es für sinnvoll und ethisch richtig, dass eine Gesellschaft koordinierte Anstrengungen unternimmt, um eine Infektionskrankheit einzudämmen, die das Leben und die Gesundheit vieler Menschen bedroht. Auch wenn wir uns um unsertwillen nicht vor dem Coronavirus fürchten, tragen meine Frau, unsere Kinder und ich bisher alle verordneten Maßnahmen klaglos mit. Wir tragen also in der Öffentlichkeit MNS-Masken, halten Abstand zu anderen Menschen, bleiben die meiste Zeit zuhause, empfangen keinen Besuch mehr, organisieren, wenn die Schulen wieder mal zusperren, den Heimunterrricht, sind zum Massentest gegangen, achten noch mehr als sonst darauf, uns nicht zu verletzen, um ja keine Spitalskapazitäten zu binden, tun im Übrigen unsere Arbeit und geben fleißig Geld aus, damit die Wirtschaft nicht den Bach runtergeht.
Manche sagen, so ein Leben, wie wir es jetzt führen, sei kein Leben mehr. Das finde ich übertrieben. Reduktion, richtig verstanden, ist immer auch Gewinn, und solange es Bücher gibt und man, wie wir, nach draußen gehen kann, kann vom Ende des Lebens keine Rede sein. Aber auch an mir nagen zunehmend Zweifel, ob die im Wochentakt verordneten Maßnahmen noch in einem angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der Gefahr stehen, dem wir als Gesellschaft – nicht als Individuen – ausgesetzt sind. Ich frage mich, ob unsere Ängste auf der einen Seite und auf der anderen der Wunsch, alle Gefahren und Fährnisse des Lebens kontrollieren oder gar ausschließen zu können, nicht eine unheilige Allianz eingegangen sind. Als ich neulich jemandem erzählte, meine Frau und ich seien mit zwei anderen Menschen, die nicht in unserem Haushalt leben, im Wald spazieren gewesen, wurde ich ernsthaft gefragt, ob wir das denn „verantworten“ könnten …
In der Weihnachtsgeschichte kommt dieser Satz vor, den der Engel zu den Hirten spricht: Fürchtet euch nicht! Das ist leicht gesagt, vor allem, wenn man ein Engel ist. Dennoch weckt der Satz einen Wunsch in mir, von dem ich allerdings nicht weiß, wer ihn mir erfüllen kann. Ich wünsche mir, dass wir alle uns im neuen Jahr weniger von unseren Ängsten regieren lassen.
Kritische Anmerkungen zu Stefan Zweigs biografischem Roman Magellan. Der Mann und seine Tat
Veröffentlicht am 26. November 2020
Als ich dem Verlag C.H. Beck im Frühjahr 2016 vorschlug, ein Buch über Magellan und die erste historisch bezeugte Weltumrundung zu machen, ahnte ich nicht, dass mich der Mann und die Taten, die ihm nachgesagt werden, fast fünf Jahre später noch beschäftigen würden. Das Buch, das pünktlich zum 500. Jahrestag von Magellans Aufbruch Richtung Ostasien 2019 herauskam, ist inzwischen in dritter Auflage erhältlich und in seinem Kielwasser segelt seit vergangenem September ein weiteres: meine Neu-Übersetzung des Reiseberichts von Antonio Pigafetta, die erste vollständige und originalgetreue Übersetzung dieses höchst lesenswerten Textes in die deutsche Sprache. Anscheinend bewegen die Abenteuer frühneuzeitlicher Seefahrer auch die Menschen des 21. Jahrhunderts – und bewegen sie sogar dazu, Bücher zu verlegen und zu lesen!
Aber welche Bücher? Im Zuge meiner Recherchen für das Magellan-Buch las ich natürlich auch Stefan Zweigs romanhafte Darstellung des Stoffes aus den 1930er Jahren, abermals nicht ahnend, dass auch dieser Mann und seine schriftstellerische Tat mich noch Jahre später geistig in Beschlag nehmen würden. Vor allem war mir nicht bewusst, wie sehr die literarische Figur Magellan, die Stefan Zweig erschaffen hat, bis heute das Bild prägt, das sich viele Menschen von der historischen Person machen, die dahinter steht: dem portugiesischen Ritter Fernão de Magalhães.
Nun ist die Unterscheidung von Literatur und Geschichte eine künstliche und unscharfe. Die Grenzen zwischen beiden Genres sind fließend. Das kann man sehr gut an Zweigs Magellan und der Rezeption seines Buchs studieren. Zweig hatte seinen Stoff gründlich recherchiert, und die äußere Handlung seiner Erzählung entspricht weitgehend dem, was zu seiner Zeit in der nicht-fiktiven Literatur – also in dem, was wir heute Sachbücher nennen – über Magellan und die erste Erdumsegelung nachzulesen war. In der Einleitung erklärte Zweig ausdrücklich, er habe Magellans Geschichte „nach allen erreichbaren Dokumenten möglichst der Wirklichkeit getreu“ dargestellt. Seine Leserinnen und Leser könnten daher auf die Idee kommen, ein literarisch geschriebenes Sachbuch („literary non-fiction“) in den Händen zu halten, das den Maßstäben historischer Kritik standhält und ein realistisches Bild der erzählten Zeit, der Welt des 16. Jahrhunderts, zeichnet. Doch das ist mitnichten der Fall.
Aus der Sicht historischer Wissenschaft, zumal des 21. Jahrhunderts, ist Zweigs Magellan ein durch und durch anachronistischer Text. Während die äußere Handlung im 16. Jahrhundert spielt und die meisten der geschilderten Ereignisse durch historische Quellen verbürgt sind, sind Zweigs Aussagen über die Psyche seines Helden und das, was man sein inneres Drama nennen kann, pure Fiktion. Dasselbe gilt für viele kausale Zuschreibungen, die der Autor vornimmt, das heißt seine Erklärungen, warum dies oder jenes geschehen sei. Für all diese Aussagen und Zuschreibungen fehlen nicht nur jegliche historischen Belege. Sondern sie sind auch höchst unwahrscheinlich – zumindest für jeden, der mit der Welt des 16. Jahrhunderts nur ein bisschen vertraut ist. Das innere Drama von Zweigs Magellan spielt mithin nicht im 16., sondern im 20. Jahrhundert. Es ist eine Erfindung des Autors. Man könnte auch sagen: Es ist das innere Drama des Stefan Zweig.
Dieser Befund wäre nicht langer Rede wert, wenn Zweigs Geschichtsklitterung nicht bis heute eine derartige Wirkung ausüben würde. Zweigs Magellan ist Wind auf die Mühlen all derer, die noch immer glauben, dass die Geschichte (jedenfalls bis zum Amtsantritt von Angela Merkel) von großen Männern gemacht wurde. Vongroßen weißen Männern, versteht sich.
Anachronistisch ist dieses Geschichtsbild deshalb, weil Magellan für einen Großteil der Taten, die Zweig ihm zuschreibt, keineswegs verantwortlich war – für andere, von denen Zweig ihn freispricht, hingegen sehr wohl. Magellan hatte, soweit wir wissen können, niemals die Absicht, die Erde zu umrunden oder gar zu „beweisen“, dass die Erde rund ist. Nicht einmal die Idee, im Süden Amerikas eine Durchfahrt nach Asien zu suchen, stammte von ihm selbst. Dieses Ziel verfolgten seine Auftrag- und Geldgeber in Kastilien, der königliche Rat und Bischof Juan Rodríguez de Fonseca und der Kaufmann Cristóbal de Haro, schon mehr als ein Jahrzehnt, bevor sie Magellan an Bord holten. Fonseca und Haro waren die Drahtzieher des Molukken-Unternehmens. Magellans Rolle lässt sich am ehesten als die eines „Geschäftsführers im Außendienst“ beschreiben.
Zweigs Romanfigur Magellan ist, auch dies ein Anachronismus, ein typischer sozialer Aufsteiger, wie ihn die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts so verehrte: ein „unbekannter Soldat“, der aufgrund seiner außerordentlichen Talente eine atemberaubende Karriere macht. In Wirklichkeit gehörte Magellan qua Geburt einer hauchdünnen Schicht privilegierter Adliger an, und gewiss hat er niemals, wie Zweig sich zusammenfantasiert, eigenhändig ein Segel gerefft oder gar an einer Lenzpumpe geschwitzt. Dafür hatte man zu Magellans Zeit Schiffsjungen beziehungsweise Sklaven.
Die Flotte, die sich Magellan bei Stefan Zweig ganz allein aus eigener Kraft und nach eigener Idee erschuf, wurde in Wirklichkeit nach genauen Vorgaben Fonsecas von Beamten und Agenten der kastilischen Kolonialbürokratie auf Kiel gelegt, die in diesem Metier auf zwanzig Jahre Erfahrung zurückgreifen konnten. Auch die Tauschwaren, die die Flotte für den Handel mitführte, hat keineswegs Magellan aufgrund seiner vermeintlich langjährigen Erfahrung mit außereuropäischen „Naturkindern“ zusammengestellt, sondern wiederum Fonseca persönlich. Dafür war es Magellan, der in Patagonien aus eigener Initiative zwei großgewachsene Einheimische kidnappen ließ und zu diesem Zweck, wie Antonio Pigafetta in seinem Reisebericht bezeugt, eine schäbige List anwandte. Zweig fabuliert an dieser Stelle von einem angeblichen „Auftrag“ der spanischen Regierung, der nirgendwo dokumentiert ist, und schiebt die List den Matrosen in die Schuhe, die lediglich Magellans Befehle ausführten.
Völlig anachronistisch ist schließlich auch Zweigs Darstellung der verschiedenen nicht-europäischen Gesellschaften, mit denen Magellan und seine Mannen im Lauf ihrer langen Fahrt zusammentrafen: die Tupi im heutigen Brasilien, die Vorfahren der Tehuelche im heutigen Patagonien, die Chamorros auf Guam, die Visayer auf den heutigen Philippinen und die Molukker. Für Zweig waren sie alle „Naturkinder“ und vor allem allesamt „braun“. Alle sind sie in seinem Roman ohne Unterschied kindliche, naive und zumeist gutmütige „Narren“, die zu den „weißen Göttern“ aus Europa ehrfurchts- und vertrauensvoll aufblicken.
Dass Europäer dieses Vertrauen allzu oft missbrauchten, beklagt der Humanist Zweig mit aufrichtigem Herzen. Seinen Helden Magellan will er von solcher Kritik freilich ausgenommen wissen (s.o.). Als Magellan auf den Visayas einige Dörfer mit Krieg überzog, um seinen Herrschaftsanspruch mit Gewalt zu untermauern, handelte er nach Zweig bloß aus einem „Gefühl der Pflicht“ heraus und weil er gegen einen „störrischen“ Häuptling „keine andere Wahl als das Argument der Waffe“ hatte. Bekanntlich verfügte sein Gegner, der Datu Lapulapu, über die stärkeren Argumente, und so fiel Magellan am 27. April 1521 im Kampf auf Mactan. Dass sein Held „durch ein lächerliches Menscheninsekt“, durch „einen braunen Lümmel, der keine ungeflickte Matte in seiner dreckigen Hütte“ hatte, „gefällt“ wurde, konnte Stefan Zweig offenbar nur schwer verwinden. An dieser Schlüsselstelle des Romans weicht die Attitüde wohlwollender Herablassung, die der Autor den „braunen Naturkindern“ gegenüber sonst an den Tag legt, unverhohlener Aggressivität.
Die Menschen außereuropäischer Kulturen, mit denen Magellan auf seiner Fahrt zusammentraf, stellt Zweig durchwegs so dar, als stünden sie auf einer niedrigeren kulturellen und geistigen Entwicklungsstufe – so weit unten, dass ihre Kultur und Lebensformen gar nicht interessieren. Stattdessen werden sie unterschiedslos mit dem Klischee des unbedarft-gutmütigen Wilden belegt oder, wie „die Feuerländer“ im Vorbeifahren als „kulturell völlig niedere Rasse“ abgetan. Indem er den vermeintlichen Entwicklungsstufen menschlicher Gesellschaften eindeutige Hautfarben zuwies („braune Naturkinder“ – „weiße Götter“), benutzte Zweig einen rassistischen Code, der dem 16. Jahrhundert so fremd war, wie wir ihn heute unerträglich finden.
Das alles heißt natürlich keinesfalls, dass man Zweigs Magellan nicht mehr lesen oder das Buch gar auf irgendeinen Index setzen sollte. Aber wer es liest, sollte sich bewusst machen, dass er oder sie darin wenig über einen Seefahrer des frühen 16. Jahrhunderts erfährt, dafür umso mehr über die Fantasien eines österreichischen Großbürgers der 1930er Jahre, den die Selbstzerfleischung seiner eigenen Kultur ins Exil und in die Verzweiflung trieb.
Diskussion im Literaturmuseum der ÖNB mit Arnhild Inguglia-Höfle, Arturo Larcati und Bernhard Fetz am 10. Juni 2021 anlässlich der Präsentation des Begleitbuchs zur Sonderausstellung „Stefan Zweig. Weltautor“.
Auch so ein Buch, das nur noch selten aufgeschlagen wird, ist der Heiligenkalender. Dabei findet man darin viele denkwürdige Geschichten. Zum 21. Oktober etwa die Legende von der Königstochter Ursula und ihren 11.000 Gefährtinnen, allesamt Jungfrauen, die auf der Heimreise von einem Papstbesuch per Schiff den Rhein hinabfuhren. Das soll um das Jahr 451 herum geschehen sein, zu der Zeit, als die Hunnen Europa in Angst und Schrecken versetzten. Bei Köln trieben Ursula und ihre Begleiterinnen den Hunnen geradewegs in die Arme. Die heidnischen Krieger machten die frommen Jungfrauen zu Märtyrerinnen, und weil Ursula dem Hunnenkönig einen Korb gab, tötete dieser sie eigenhändig.
Über den mutmaßlichen Gräbern der Märtyrerinnen entstand im Mittelalter eine Kirche, St. Ursula zu Köln, und ihr Kult verbreitete sich über ganz Europa. Auch die christlichen Seefahrer, die am Ende des Mittelalters von Spanien und Portugal zu neuen Ufern aufbrachen, verehrten die Heiligen Jungfrauen, vielleicht weil auch diese, als sie das Martyrium ereilte, per Schiff unterwegs gewesen waren. So benannte Columbus nach ihnen eine Inselgruppe in der Karibik, die er auf seiner zweiten Fahrt 1493 besuchte: die heutigen Jungferninseln. Und als Ferdinand Magellan auf seiner Suche nach einem Seeweg in den Pazifik am 21. Oktober 1520 an der Küste Amerikas bei 52° 20′ südlicher Breite eine Landspitze sichtete, eine sandige Klippe am Rand der südamerikanischen Steppe, nannte er sie „Kap der Elftausend Jungfrauen“. Heute liegt das Kap in der argentinischen Provinz Santa Cruz, unweit der Grenze zu Chile, und heißt etwas knapper „Cabo Vírgenes“, also Jungfernkap.
Als der fromme Katholik Magellan jenes Kap nach den legendären Elftausend Jungfrauen taufte, stiftete er, ohne es zu ahnen, einen neuen Gedenktag. Wenige Kilometer weiter südlich öffnet sich nämlich eine Bucht, und diese Bucht entpuppte sich als Einfahrt in die Meerenge, die zu suchen Magellan ein Jahr zuvor von Spanien ausgezogen war: die Wasserstraße, von der er hoffte, dass sie den Atlantischen mit dem Pazifischen Ozean verband und so einen westlichen Seeweg von Europa nach Asien eröffnete. Zwar benötigten Magellan und seine Gefährten mehr als fünf Wochen, um den westlichen Ausgang der gut 600 Kilometer langen Meerenge zu finden, denn wie man auf modernen Karten sieht, gleicht sie mehr einem Labyrinth aus Kanälen und Inseln als einer Straße. Aber der Tag, an dem die Seefahrer das Jungfernkap sichteten, ist in die Geschichte eingegangen als jener Tag, an dem die Meerenge, die heutige Magellanstraße, entdeckt wurde. Er liegt in diesem Jahr genau 500 Jahre zurück.
Der Weltreisende Antonio Pigafetta, der diesen historischen Moment miterlebt hat, schildert ihn in seinem Reisebericht wie folgt:
Kurz darauf, bei 52 Grad zum südlichen Pol, fanden wir durch ein riesengroßes Wunder am Tag der Elftausend Jungfrauen eine Meerenge, deren Landspitze wir Kap der Elftausend Jungfrauen nannten. Diese Meerenge ist hundertzehn Leugen lang, was 440 Meilen entspricht, und mehr oder weniger eine halbe Leuge breit. Sie führt in ein anderes Meer, Mar Pacifico genannt, und ist von sehr hohen, mit Schnee bedeckten Bergen umgeben. Wir konnten nirgends ihren Grund ausloten.
Wenn der Generalkapitän nicht gewesen wäre, hätten wir diese Meerenge nicht gefunden, denn wir alle meinten, dass sie ringsum geschlossen wäre. […] Der Kapitän schickte zwei Schiffe aus, Sancto Antonio und la Conceptione (so wurden sie genannt), um zu sehen, was sich am Ende der Bucht befand. Wir blieben mit den anderen beiden Schiffen – das Flaggschiff hieß Trinidade, das andere la Victoria – innerhalb der Bucht, um auf sie zu warten. In der Nacht überfiel uns ein starkes Unwetter, das bis zum anderen Mittag dauerte und uns zwang, den Anker zu lichten, sodass wir kreuz und quer durch die Bucht trieben.
Die beiden ausgesandten Schiffe hatten starken Gegenwind. Sie wollten zu uns zurückkehren, waren jedoch nicht imstande, eine Landspitze fast am Ende der Bucht zu umrunden, und sahen sich schon genötigt, auf Grund zu laufen. Doch als sie sich dem Ende der Bucht näherten und bereits verloren wähnten, erblickten sie eine kleine Mündung, die keine Mündung zu sein schien, sondern eine Ecke. Wie Männer, die alle Hoffnung fahren gelassen haben, jagten sie hinein, sodass sie aus schierer Not heraus die Meerenge entdeckten.
Und als sie sahen, dass es keine Ecke war, sondern eine Meerenge im Land, fuhren sie voran und fanden eine Bucht. Danach fuhren sie noch weiter und fanden eine weitere Meerenge und eine weitere Brucht, beide größer als die vorherigen. Zutiefst beglückt wollten sie sogleich umkehren, um es dem Generalkapitän zu berichten. Wir dachten derweil, sie seien zugrunde gegangen, zum einen wegen des heftigen Unwetters, zum anderen weil zwei Tage vergangen und sie nicht aufgetaucht waren. Auch wegen gewisser Rauchwolken, die zwei Abgesandte von ihnen an Land auftsteigen ließen, um uns zu benachrichtigen. Und wie wir so angespannt waren, sahen wir zwei Schiffe mit vollen Segeln und wehenden Fahnen auf uns zukommen. Als sie ganz nahe waren, feuerten sie plötzlich mehrere Bombarden ab, was wir mit Salutschüssen und Freudengeheul beantworteten. Daraufhin dankten wir Gott und der Jungfrau Maria und fuhren alle gemeinsam los, um weiterzusuchen.
Soweit der Augenzeuge Antonio Pigafetta. Der zitierte Text ist meiner Neuübersetzung seines Reiseberichts entnommen, die kürzlich in der wbg Edition erschienen ist:
Erstmals vollständig übersetzt und kommentiert von Christian Jostmann. 2020. 272 S. mit 31 farb. Abb. und 1 Kt., 14,5 x 21,5 cm, geb. mit SU. u. Lesebändchen, wbg Edition, Darmstadt. 28 Euro (22,40 für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft)
Warum sollte man ein fast fünfhundert Jahre altes Buch, das bereits mehrfach ins Deutsche übertragen wurde, nochmals übersetzen?
Weil das Buch wichtig ist und weil es von ihm bisher keine gute deutsche Übersetzung gab.
Das Buch, das ich meine, ist Antonio Pigafettas „Bericht von der ersten Reise rund um den Globus“. Der wohlgeborene Ritter aus Vicenza hatte 1519 bis 1522 an der ersten historisch belegten Umsegelung der Erde teilgenommen. Anders als die meisten seiner Mitfahrer überlebte er die Reise, sodass er nach der Rückkehr einen Reisebericht schreiben konnte. Sein Bericht ist die detaillierteste und lebendigste Erzählung eines Augenzeugen dieser historischen Fahrt. Pigafetta schildert das entbehrungsreiche Leben an Bord, die Gefahren und Abenteuer, die er und seine Mitstreiter durchstanden, und nicht zuletzt erzählt er von seinen zahlreichen Begegnungen mit anderen Menschen.
Pigafetta begegnete vielen Menschen, die zuvor nie oder kaum Kontakt mit Europäern gehabt hatten: den Tupi im heutigen Brasilien, den Tehuelche Patagoniens, den Chamorros auf Guam, den Visayern auf den heutigen Philippinen, den Einwohnern Mindanaos, Borneos, der Molukken und Timors. Die Arten und Weisen, wie all diese Leute lebten, sprachen, sich kleideten und ernährten, wie sie musizierten, Krieg führten, Sex hatten und ihre Götter verehrten, waren für Pigafetta und seine europäischen Zeitgenossen unerhört neu und fremdartig. Pigafetta beobachtete aufmerksam, stellte Fragen, lernte fremde Sprachen und schrieb auf, was ihm bemerkenswert erschien. So wurde er zum Ethnologen avant la lettre, der uns eine Beschreibung der Erde und ihrer Kulturen in den ersten Tagen der Globalisierung überliefert hat. Eine Beschreibung, die uns auch helfen kann, unsere Gegenwart, die mehr denn je von derselben Globalisierung geprägt ist, besser zu verstehen.
Habent sua fata libelli: Auch Pigafettas Buch hatte ein wechselvolles Schicksal. Zunächst nur in einer gekürzten französischen Übersetzung gedruckt, dann ins Italienische rückübersetzt, wurde Pigafettas ursprünglicher Text erst um 1800 in einer Mailänder Bibliothek wiederentdeckt. Er ist in einem Dialekt verfasst, wie man ihn im 16. Jahrhundert in Vicenza sprach. Allerdings meinte der Wieder-Entdecker von Pigafettas Bericht, der Mailänder Bibliothekar Carlo Amoretti, dass man dem Publikum die eigentümliche, oft derbe Sprache des Autors nicht zumuten könne. Daher „übersetzte“ Amoretti den Bericht ins moderne Italienisch und glättete dabei so manche Passage, die er als anstößig oder unklar empfand.
Mittlerweile gibt es längst originalgetreue Ausgaben von Pigafettas Buch: in der Originalsprache, in französischer und in englischer Übersetzung, es gibt Faksimile- und kritische Editionen. Nur im Deutschen gab es bis dato nichts dergleichen. Die einzige bisher hierzulande auf dem Buchmarkt erhältliche Ausgabe bringt einen vielfach gekürzten, an anderen Stellen willkürlich erweiterten Text, ohne dass Kürzungen oder Erweiterungen kenntlich gemacht wären; die Übersetzung selbst ist mitunter freizügig bis zur Sinnentstellung. Beispiel gefällig? Folgende Passage aus Pigafettas Bericht wurde in der bisher erhältlichen Edition kommentarlos gestrichen:
Eines Tages kam ein schönes junges Mädchen auf das Flaggschiff, wo ich mich aufhielt, zu nichts anderem, als um ihr Glück zu versuchen. Wie sie so abwartend dastand, warf sie einen Blick auf die Kajüte des Meisters und sah einen Nagel länger als einen Finger, den sie mit großer Vornehmheit und Anmut an sich nahm. Sie steckte ihn zwischen die Lippen ihrer Natur und verschwand heimlich, still und leise. Das sahen der Generalkapitän und ich.
Weil ich fand, dass auch Leserinnen und Leser des Deutschen dieses wichtige und obendrein sehr unterhaltsame Buch in möglichst authentischer Form lesen können sollten, habe ich es direkt aus der Originalsprache, dem Venetischen des 16. Jahrhunderts, neu übersetzt. Und damit alle den Text einordnen und verstehen können, habe ich eine historische Einleitung und einen Fußnoten-Kommentar hinzugefügt, in dem alle fremdartigen Namen und Begriffe erklärt werden. Ganz besonders freut mich, dass die Neuausgabe auch die 23 farbigen Miniaturen enthält, die Pigafetta selbst seinem Werk beigegeben hatte und die bisher in keiner deutschen Ausgabe abgedruckt wurden.
Ich danke dem Deutschen Übersetzerfonds für ein großzügiges Arbeitsstipendium und dem Verlag wbg Edition für die schöne und hochwertige Ausgabe. Dank ihr kann man nun den „echten“ Pigafetta auch auf Deutsch lesen. Viel Spaß bei der Lektüre und – buon viaggio!
Erstmals vollständig übersetzt und kommentiert von Christian Jostmann. 2020. 272 S. mit 31 farb. Abb. und 1 Kt., 14,5 x 21,5 cm, geb. mit SU. u. Lesebändchen, wbg Edition, Darmstadt. 28 Euro (22,40 für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft).
„Jostmanns Ziel war es, Pigafettas Bericht »in authentischer und zugleich lesbarer Form einem größeren Publikum auf Deutsch zugänglich zu machen«. Das ist ihm mit diesem Buch rundum gelungen.“ (Gerhard Schmitz in Spektrum der Wissenschaft)
„Pigafettas Bericht ist eine Kostbarkeit der Weltreiseliteratur. Seine Schilderungen der exotischen Länder und der Indigenen zeugen von einem neugierigen Blick auf das Fremde … Nun hat der Historiker Christian Jostmann … den Bericht nach der maßgeblichen Mailänder Handschrift neu übersetzt. Zwar erscheint die Übersetzung an manchen Stellen etwas hölzerner als die gewohnte von Robert Grün, doch ist der Text zum ersten Mal in einer verlässlichen Ausgabe zugänglich.“ (Hans-Christian Riechers in Der Tagesspiegel)
Kiwis aus Neuseeland, Ananas aus Costa Rica, Wein aus Chile – man muss nur in den Supermarkt gehen, um zu begreifen, dass wir in einer globalisierten Welt leben. Doch wer meint, Globalisierung sei ein modernes Phänomen, irrt. Fritz Heichelheim, ein aus Nazideutschland vertriebener Althistoriker, erkannte schon bei den antiken Sumerern und Ägyptern vor 5000 Jahren Fernhandelsnetze, die sich von Nordafrika bis ins Innere Asiens erstreckten. Nicht ganz so weit in die Vergangenheit zurück geht Janet Abu-Lughods These vom spätmittelalterlichen „Weltsystem“. Während des Mongolenreiches, also zwischen 1250 und 1350 etwa, habe sich in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Europas ein komplexes Netzwerk kommerziellen und kulturellen Austauschs etabliert. Da wurde Bernstein vom Baltikum bis nach China gehandelt, Elfenbein gelangte von Südafrika auf dem Seeweg nach Indien und weiter nach Ostasien, gefärbte Baumwollstoffe wurden von Indien nach Java exportiert, Porzellan und Seide von China in den Mittleren Osten, Gewürze von den Molukken bis nach Paris und London …
Dass Globalisierung gar nichts Neues sei, ist auch die Botschaft von Valerie Hansens Buch „The Year 1000. When Explorers Connected the World – and Globalization began„. Die in Yale lehrende Historikerin und China-Expertin hat zahlreiche Indizien dafür versammelt, dass Handel und kulturelle Kontakte bereits um die erste Jahrtausendwende sprunghaft zunahmen – und zwar weltweit.
Ihre literarische Tour um den Globus startet Hansen mit den Atlantikfahrten der Wikinger, die bekanntlich um das Jahr 1000 Grönland und das heutige Kanada ansteuerten. Folgt man der Autorin, dann sind die blonden Männer in ihren Langbooten noch ein gutes Stück weiter gekommen, nämlich bis zur mexikanischen Halbinsel Yucatan, wo Hansen sie und ihre Schiffe auf Wandbildern der Mayas identifiziert haben will.
Weil es die Wikinger nicht nur nach Westen trieb, skizziert Hansen anschließend ihre Umtriebe in Osteuropa. Dort reüssierten Skandinavier seit dem 8. Jahrhundert als Sklaven- und Pelzhändler und wirkten wohl auch an der Gründung des ältesten russischen Reiches mit, der Kiewer Rus. Der Sklavenhandel leitet zum nächsten Kapitel ihres Buches über, das sich den Beziehungen zwischen Afrika und der islamischen Welt widmet. Vor allem Bagdad, damals eine Millionenstadt, habe einen solchen Bedarf an Sklaven entwickelt, dass die Zahl der jährlich durch die Sahara verschleppten Menschen in die Tausende ging. Der Menschenhandel zwischen Afrika und dem Mittleren Osten, schätzt Hansen, habe über die Jahrhunderte fast so viele Opfer gefordert wie der transatlantische der Frühen Neuzeit, nämlich an die 12 Millionen.
Gänzlich anders geartet, aber laut Hansen nicht minder massiv waren Migrationsbewegungen, die sich um die erste Jahrtausendwende in Zentralasien abspielten. Der breite Steppengürtel zwischen Ungarn und Nordchina bot den berittenen Kriegern nomadischer Stämme, wie den Seldschuken, ideale Bedingungen, um die angrenzenden Reiche auszurauben oder zu unterwerfen. Nicht selten nahmen die Eroberer nicht nur die irdischen Reichtümer ihrer Opfer an sich, sondern auch deren religiöse Überzeugungen. So sorgten sie für die Ausbreitung des Islam und des Buddhismus in Zentralasien – auch dies eine Form der Globalisierung.
Was in Innerasien Pferde, leisteten auf dem Indischen Ozean Dschunke und Dhau: Die beiden Schiffstypen ermöglichten den Kontakt zwischen Kulturen und Völkern, die tausende Seemeilen entfernt voneinander lebten. Auf ihnen gelangten sowohl gefragte Güter wie Edelmetalle, Seide, Porzellan und Gewürze übers Meer als auch Mönche und heilige Texte. Am dichtesten gewoben war das Handelsnetz ganz im Osten Asiens, rund um die Südchinesische See, weshalb Hansen diese Region mit dem Etikett „The Most Globalized Place on Earth“ versieht. Während in den größten Städten Europas jener Zeit gerade mal ein paar tausend Menschen hausten, reichte die Einwohnerzahl der beiden chinesischen Häfen Guangzhou und Quanzhou bereits an die Million. Hier lebten Chinesen Tür an Tür mit Arabern und Indern, und auf den Märkten war alles käuflich von afrikanischem Elfenbein-Schmuck über in Malaysia gewobene Rattan-Matten bis zu aromatischem Sandelholz aus Timor (laut Hansen allerdings kaum Sklaven).
Für ihre Tour d’horizon durch die globalisierte Welt des Jahres 1000 ist Valerie Hansen zu danken. Sie lesend nachzuvollziehen kann unserem auf die Neuzeit fixierten Geschichtsbild und unserem Hang zum Eurozentrismus entgegenwirken. Auch wenn das in manchen Schulbüchern noch immer so steht: Die Globalisierung war keine Erfindung genialer oder – je nach Sichtweise – diabolischer Renaissance-Menschen aus Europa. Sondern ein Prozess, der lange vor 1500 in Gang war und – wie heute auch – von den verschiedensten Akteuren auf der ganzen Welt vorangetrieben wurde. Zweifellos konnten sich die europäischen Imperialisten der Frühen Neuzeit Netzwerke und Kommunikationswege zunutze machen, die sie fast überall auf der Welt vorfanden, von Tidore bis Tenochtitlán.
Dass und warum „die“ Globalisierung aber ausgerechnet um das Jahr 1000 herum begonnen haben soll, kann Hansen in meinen Augen nicht schlüssig begründen. Die meisten Handelsnetze, die sie in ihrem Buch beschreibt, waren um die erste Jahrtausendwende längst geknüpft, einige wie die beiden „Seidenstraßen“, die innerasiatische und die maritime, bestanden schon seit vielen Jahrhunderten. Auch hatten auf der Erde bereits weiträumige Expansionsprozesse stattgefunden, die bis heute nachwirken: von der Verbreitung des Buddhismus in Asien über den Indienzug Alexanders des Großen bis zur explosionsartigen Ausdehnung des Dar al-Islam ab etwa 630 – wohl einer der folgenreichsten Globalisierungsschübe überhaupt. 711 eroberten muslimische Krieger die iberische Halbinsel und 751 besiegten sie in der Schlacht am Fluss Talas, wo heute Kasachstan an Kirgistan grenzt, eine Armee der Tang-Dynastie. Ein in diesem Frühjahr erschienenes Handbuch beschreibt den Grad globaler Vernetzung, den Gesellschaften in Afrika, Asien und Europa bereits im Frühmittelalter (ca. 600-900 n. Chr.) erreicht hatten, also deutlich vor dem Jahr 1000.
Wenig überzeugend finde ich auch, die Fahrten des Wikingers Leif Eriksons nach Neufundland und Labrador (von der höchst spekulativen Präsenz der Nordmänner auf Yucatan ganz zu schweigen) sowie die Besiedlung des Pazifik durch die Polynesier ins Feld zu führen, um die These zu untermauern, die Globalisierung habe um das Jahr 1000 ihren Anfang genommen. Die Pazifik-Besiedlung erfolgte in mehreren Schüben; der letzte begann nach heutigem Wissensstand um 700 n. Chr. und endete gut 500 Jahre später mit der Besiedlung von Aotearoa (Neuseeland). Aber inwiefern stehen die Fahrten der Polynesier mit Migrationsbewegungen in Zusammenhang, die sich im selben Zeitraum anderswo auf dem Globus ereigneten? Da wir nicht wissen, warum sie in See stachen, lässt sich diese Frage allenfalls hypothetisch beantworten.
Jedenfalls waren vor der Neuzeit die meisten pazifischen Inseln einschließlich Papuas und Australiens so wenig in das Handelsnetz der „Alten Welt“ eingebunden wie der amerikanische Kontinent. Es macht eben einen Unterschied, ob eine Handvoll wagemutiger Pioniere den Weg zu fernen Gestaden fand oder ob sie auch den Rückweg meisterten, sodass dauerhafte Kontakte zustandekamen. Die Kanarischen Inseln wurden lange vor Christus von den Guanche besiedelt, doch in den tausend Jahren vor ihrer Eroberung durch Europäer im 14. Jahrhundert unterhielten jene keine Beziehungen zur Außenwelt. Desgleichen lebten die Rapa Nui der Osterinsel, die Chamorros auf Guam und die Maori auf Aotearoa bis zur Ankunft europäischer Seefahrer isoliert, und aus den Fahrten der Wikinger entstanden, anders als aus denen des Kolumbus, keine bis heute andauernden Verbindungen zwischen den Kontinenten. Die Skandinavier gaben ihre Siedlungen auf Grönland um 1400 wieder auf. Es ist daher irreführend, wenn Hansen schreibt, die von Vasco da Gama und Magellan „entdeckten“ Seerouten seien bereits tausend Jahre zuvor befahren worden. Aus Sicht der Globalisierung ist entscheidend, wann auf diesen Routen ein kontinuierlicher, langfristiger Austausch von Menschen, Waren und Ideen in Gang kam. Nach diesem Kriterium sind die Etablierung der portugiesischen Carreira da India nach 1498 und die Einrichtung der Manila-Galeone rund hundert Jahre später, die Amerika mit den Philippinen verband, nunmal Marksteine globaler Geschichte.
Den Begriff der „Globalisierung“ diskutiert Valerie Hansen in ihrem Buch nicht, sondern umschreibt ihn allenfalls vage: „This is, when trade routes took shape all around the world that allowed goods, technologies, religions, and people to leave home and go somewhere new.“ Nach dieser Definition hätte die Globalisierung nicht vor tausend, sondern bereits vor 100.000 Jahren begonnen, als die ersten Exemplare der Gattung Homo sapiens ihre afrikanische Heimat verließen, neue Lebensräume erschlossen und bald auch begannen, über längere Distanzen Dinge zu tauschen, wertvolle Steine zum Beispiel, was spätestens für das Jungpaläolthikum belegt ist. Die Unschärfe ihres Globalisierungsbegriffs schadet nach meinem Urteil Hansens Argumentation. Indem sie nicht nach der Wechselseitigkeit und Nachhaltigkeit der von ihr beschriebenen Kontakte fragt, übetreibt Hansen die schon oft beschworene historische Bedeutung der „mutation d’an mil“ (Dominique Barthélemy 1997) für die globale Geschichte. China mag um das Jahr 1000 der „Most Globalizend Place on Earth“ gewesen sein. Aber es war sicherlich nicht der Startplatz, von dem „die“ Globalisierung ihren Ausgang nahm. Von der Hochblüte der Song-Dynastie führte kein ununterbrochener historischer Pfad zu den Expansionsprozessen des 15. und 16. Jahrhunderts. An diesen nahm China, jedenfalls bis 1567, nicht aktiv teil.
Nun müssen in einer globalisierten Welt auch Bücher darum wetteifern, wahrgenommen und gekauft zu werden. Eine zugespitzte (wenn auch keineswegs ganz neue) These mag dabei helfen. Den nicht ganz uninformierten Leser freut sowas weniger. Aber trotz seiner begrifflichen Schwächen sei das Buch zur Lektüre empfohlen, zum einen wegen der Fülle des darin ausgebreiteten Materials, zum zweiten wegen der Zusammenhänge, die es herstellt, zum dritten weil es als Antidot gegen allzu bornierte Geschichtsbilder wirken kann (s.o.):
Es ist an der Zeit, wieder einmal von Antonio Pigafetta zu sprechen. Dem Ritter aus der norditalienischen Stadt Vicenza verdanken wir eines der schönsten Reisebücher der Weltliteratur, nämlich seinen Bericht über die erste Umrundung der Erde. Darin erzählt Pigafetta höchst anschaulich und lebendig von seiner Fahrt auf der Armada des Magellan, die ihn zwischen 1519 und 1522 von Spanien über Südamerika und den Pazifik bis zu den heutigen Philippinen, nach Borneo, zu den Molukken, nach Timor und um das Kap der Guten Hoffnung zurück nach Sevilla – kurzum: einmal rund um die Welt – führte.
Bisher war Pigafettas Bericht auf Deutsch nur in gekürzten oder willkürlich umgearbeiteten Versionen erhältlich, die keinen authentischen Eindruck von diesem lesenswerten Text vermitteln. Ich habe mir daher, unterstützt vom Deutschen Übersetzerfonds, die Mühe gemacht, den gesamten Bericht nach der besten erhaltenen Handschrift, L 103 Sup. der Mailänder Biblioteca Ambrosiana, neu zu übersetzen. Und im Verlag wbg-Wissen verbindet habe ich einen kompetenten Partner gefunden, der meine Neuübersetzung im Druck herausgeben wird.
Neben der ersten vollständigen, originalgetreuen Übersetzung von Pigafettas Bericht ins Deutsche wird die Neuausgabe eine Einleitung und detaillierte Kommentare enthalten, die Leserinnen und Lesern der Gegenwart einen barrierefreien Zugang zur fernen Welt des frühen 16. Jahrhunderts ermöglichen. Außerdem werden darin erstmals sämtliche farbigen Miniaturen abgebildet sein, mit denen Pigafetta sein Werk geschmückt hat. Das Buch soll Mitte September erscheinen – ich freue mich schon sehr darauf!
Am 28. April 2020 begeht Österreich ein denkwürdiges Jubiläum. An diesem Tag ist es genau 25 Jahre her, dass Innenminister Caspar Einem in Brüssel das Schengener Übereinkommen unterzeichnete. Bis zu dessen Umsetzung sollte es danach noch etwas dauern. Erst seit Ende 1997 konnten Reisende die Grenze ohne – wie es in der Polizeisprache heißt – „verdachtsunabhängige Kontrolle“ passieren.
So war es auch, als meine Frau, eine gebürtige Österreicherin, und ich, ein deutscher Staatsbürger, im Frühjahr 2005 von Deutschland nach Österreich übersiedelten, um uns im Weinviertel niederzulassen. Niemand wollte an der Grenze unsere Pässe sehen und niemand interessierte sich für den Inhalt des Kleintransporters, mit dem wir unseren Hausrat in die neue, für meine Frau alte, Heimat überführten.
In den folgenden Jahren haben wir die Grenze ungezählte Male gequert: um Verwandte und Freunde zu besuchen, zu Familienfeiern, zu beruflichen Zwecken, oft allein, manchmal zu zweit, meistens mit den Kindern. Den Kindern erzählten wir beim Grenzübertritt gern, wie es früher war, als man noch kontrolliert wurde und mit Wartenzeiten rechnen musste. Dabei redeten wir wie alte Leute, wenn sie von längst vergangenen Dingen erzählen, die sich die Jüngeren nicht richtig vorstellen können. Von Dingen, die zwar von leiser Nostalgie umflort sein mochten, die aber ehrlicherweise niemand vermisste. Für eine österreichisch-deutsche Familie wie uns war „Schengen“ einfach nur ein Segen.
Wie segensreich die Schengener Bräuche gewesen waren, erfuhren wir, als wir Anfang 2016 wieder einmal nach Deutschland reisten. Gegen Mitternacht hämmerte es gegen die Tür unseres Liegewagenabteils und eine Männerstimme riss uns aus den Träumen: „Aufmachen! Bundespolizei. Passkontrolle!“ Auf meine verwunderte Frage, was wir uns denn hätten zuschulden kommen lassen, dass er unseren und unserer Kinder Schlaf störe, erklärte mir der Beamte, sie würden im Zug nach illegal einreisenden Personen suchen. Wohl um die Sinnhaftigkeit seines Tuns zu betonen, fügte er hinzu, dass sie in der vorherigen Nacht sogar eine solche Person aufgegriffen hätten.
Seither wurden Grenzkontrollen für uns wieder zur Normalität. Nicht nur erwarteten wir bei jedem Grenzübertritt, kontrolliert zu werden. Auch der Verkehrsfunk erinnerte uns regelmäßig an die veränderten Verhältnisse, wenn er die Wartezeiten an den Grenzübergängen durchgab. Aber auch diese andere Normalität, die im Herbst 2015 die Normen des Schengener Abkommens abgelöst hat, ist uns mittlerweile abhanden gekommen. Am 16. März 2020 wurde die Grenze zwischen Österreich und Deutschland vollends geschlossen, und sie wird es auch über den 28. April hinaus sein – diesmal allerdings nicht, um illegal einreisende Menschen, sondern um Coronaviren am Grenzübertritt zu hindern. Was aber auf dasselbe hinausläuft, weil nun alle Menschen im Verdacht stehen, Virenschmuggler zu sein.
Für meine österreichisch-deutsche Familie ist die Grenzschließung eine Zäsur im Wortsinn, schneidet sie uns doch in einem bislang nie erlebten Maß von unseren Verwandten und anderen lieben Menschen ab. Nicht de jure, weil alle deutschen Staatsbürger weiterhin das Recht haben, nach Deutschland einzureisen, aber de facto – und vor allem gefühlt.
Angesichts der uns verordneten Entkörperlichung fast aller zwischenmenschlichen Beziehungen mag das nebensächlich sein. Dennoch erscheint es mir bemerkenswert, dass Österreich unter solchen Vorzeichen das 25jährige Jubiläum seines Beitritts zum Schengener Übereinkommen begeht – und nicht etwa feiert, denn zu feiern wäre allenfalls die Öffnung der Grenze nach dem Abklingen der Pandemie. So denn die Grenze wieder geöffnet wird …
Am 15. April hat das deutsche Bundesinnenministerium mitgeteilt, dass der Minister „aus migrations- und sicherheitspolitischen Gründen … die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Landgrenze mit Wirkung zum 12. Mai 2020 für einen sechsmonatigen Zeitraum auf Grundlage der Art. 25 bis 27 des Schengener Grenzkodex neu angeordnet hat“.
„Schengen“ bleibt also – bis auf ministeriellen Widerruf – Geschichte. Damit aber nicht in Vergessenheit gerät, wie es zwischenzeitlich an den Grenzen aussah, stelle ich aus Anlass des „Jubiläums“ einige der Bilder online, die der Fotograf Bernd Ctortecka im Jahr 2005 an der österreichisch-deutschen Grenze aufgenommen hat. Die Bilder sollten seinerzeit eine Bestandsaufnahme liefern, im Jahr Zehn nach dem Schengen-Beitritt Österreichs. Sie waren gedacht als Einladung zur Reflexion, was das scheinbare Verschwinden der Staatsgrenzen ästhetisch und symbolisch bedeutete. Heute scheinen sie uns an eine Utopie zu erinnern, die vielleicht niemals Wirklichkeit geworden ist.
Am 25. Januar 1522 erreichte der italienische Ritter Antonio Pigafetta auf dem spanischen Dreimaster Victoria die Insel Timor. Pigafetta und seine Gefährten waren nicht die Ersten, die aus Europa nach Timor kamen. Portugiesische Schiffe liefen die Insel bereits seit ein paar Jahren immer wieder an, um ihren wichtigsten Exportartikel einzukaufen: Sandelholz. Die Victoria war allerdings das erste Schiff, das Timor, ja überhaupt Asien von Westen kommend ansteuerte, auf dem langen Weg um die Südspitze Amerikas herum und über den Pazifik. Und Pigafetta war der erste europäische Autor, der eine Beschreibung der Insel lieferte – in seinem „Bericht über die erste Umrundung der Erde“, den er nach der Rückkehr verfasste.
Neben anderen Details über die Lebensweise der Einheimischen, ihre Kleidung und Ernährung, die Sandelholzproduktion und die Herrschaftsverhältnisse auf Timor berichtete Pigafetta auch von einer Krankheit, die auf allen Inseln des Malaiischen Archipels grassiert habe, besonders stark aber auf Timor. Pigafetta nannte diese Krankheit „das Leiden des Heiligen Hiob“. Die Einheimischen würden sie allerdings „for franchi“ nennen, „das heißt portugiesische Krankheit“.
„Leiden des Heiligen Hiob“: Das war im Europa der Frühen Neuzeit ein Name für die Syphilis, eine Seuche, die am Ende des 15. Jahrhunderts erstmals in Italien massenhaft ausgebrochen war und von der man annimmt, dass Rückkehrer der Columbus-Expeditionen sie aus Amerika eingeschleppt hatten. Pigafettas Bericht zeigt, dass die Syphilis ein Vierteljahrhundert später bereits den äußersten östlichen Rand der „Alten Welt“ erreicht hatte, mutmaßlich an Bord portugiesischer Schiffe, waren diese bis dato doch die einzigen, die den Seeweg zwischen Europa und Asien befuhren. Daher nannten die Einheimischen sie „portugiesische“ oder wörtlich „fränkische Krankheit“.
Mit dem Adjektiv „fränkisch“ wurden in Indien und Südasien seit etwa der Zeit Karls des Großen allgemein Fremde belegt, die aus Europa kamen. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts waren das mehrheitlich Portugiesen, die durch Schiffs- und Geschlechtsverkehr einen Beitrag zur „unification microbienne du monde“ (Emmanuel Le Roy Ladurie) leisteten, zur „mikrobiellen Vereinigung der Welt“ im beginnenden Zeitalter der Globalisierung. In der vedischen Medizin heisst die Syphilis übrigens auch heute noch „firanga roga“: fränkische Krankheit.