Hitler, Magellan und Stefan Zweig

Veröffentlicht am 21. Mai 2021
Weltverbrecher
Bild: Styiabooks

Diese Woche ist in der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ meine Rezension von Roman Sandgrubers Buch „Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde“ zu lesen: vordergründig eine Biografie des Zollamt-Oberoffizials Alois Hitler geb. Schicklgruber, de facto jedoch eine sachkundige Sozialgeschichte Oberösterreichs an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert, die mit einigen Mythen um Herkunft und Kindheit des späteren Reichskanzlers und „Führers“ aufräumt.

Welterkunder
Bild: Wikimedia Commons

Aus Anlass von Ferdinand Magellans 500. Todestag am 27. April 2021 hat Andrea Lueg über den „Pionier der Globalisierung“ ein höchst hörenswertes Radiofeature produziert, zu dem ich ein Interview beisteuern durfte. Es wurde auf SWR2 ausgestrahlt und kann hier nachgehört werden.

Weltautor

Am 16. Juni diskutiere ich im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek mit Bernhard Fetz und Arturo Larcati über Stefan Zweig und seinen „Magellan“. Der 1938 erschienene Roman ist nicht nur eines der weltweit meistgelesenen Bücher über den portugiesischen Seefahrer, sondern auch voll von rassistischen Stereotypen.  Die Diskussion  wird per Live-Stream im Internet übertragen.

Wunder für die Augen: Islamische Weltkarten

Veröffentlicht am 26. April 2021

Es soll noch heute Menschen geben, die glauben oder behaupten, die Erde sei eine flache Scheibe – eine Vorstellung, die fälschlicherweise oft pauschal dem Mittelalter in die Holzpantinen geschoben wird. In Wahrheit geriet die antike Theorie einer sphärenförmigen Erde nie in Vergessenheit. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert war sie in Europa allgemeines Bildungsgut, zumindest in Kreisen, die sich für solche Dinge interessierten, das heißt vor allem unter Theologen und Seefahrern.

Weltkarte des Juan de la Cosa (1500)
Bild: Kimon Berlin, user:Gribeco, via Wikimedia Commons

Eine andere Frage war allerdings, wie man sich die Erdoberfläche im ganzen vorzustellen hatte, wie Land und Wasser auf ihr verteilt waren. Sich davon ein Bild zu machen, war naturgemäß schwierig in einer Welt, in der es keine Fluggeräte, geschweige denn Erdbeobachtungssatelliten gab und Reisende an Land im Schnitt 30 bis 40, zur See günstigenfalls 150 Kilometer pro Tag zurücklegten. Deshalb staune ich immer wieder darüber, wie sich seit dem späten Mittelalter auf Landkarten ein neues Bild der Erde abzeichnet, auf dem Strich für Strich die Kontinente Konturen gewinnen – Konturen von atemberaubender Gegenständlichkeit, obwohl den Zeichnern ihr Objekt niemals vor Augen stand. Welchen geistigen Kraftakts, welcher Imaginationskraft es dafür bedurfte, ist für die meisten von uns heute kaum zu ermessen.

Die allmähliche Verfertigung eines neuen Weltbilds beim Zeichnen ist keine rein europäische Geschichte. Welchen Beitrag muslimische Gelehrte dazu geleistet haben, ist seit langem bekannt. Muslime wirkten nicht nur als Vermittler geographischen und mathematischen Wissens, sondern ragten auch als Kartografen hervor. So sind wohl allen, die sich für die Geschichte der Kartografie interessieren, die Weltkarten des al-Idrīsī (1154) und des Pīrī Re’īs (1513, Fragment) ein Begriff. Man findet sie zuhauf in Büchern und im Internet abgebildet.

Doch die Karten von al-Idrīsī und Pīrī Re’īs sind prominente Einzelstücke. Sie sind Teil einer reichen Tradition, hervorgebracht von muslimischen Kartenzeichnern des Mittelalters, deren Namen und Werke hierzulande nur den wenigsten bekannt sein dürften. Dass es jedoch lohnt, dieser Tradition Augenmerk zu schenken, beweist der Band „Islamische Karten“ des Londoner Historikers Yossef Rapoport. So wie andere Forscher*innen heute sieht auch Rapoport in den Werken muslimischer Kartenzeichner nicht mehr bloße Zwischenschritte auf dem Weg hin zum modernen Weltbild, sondern einzigartige Schöpfungen des menschlichen Geistes, die ein Studium um ihrer selbst willen verdienen.

Liniennetzplan von Ost-Berlin (1984)
Bild: Wikimedia Commons

Ist der Maßstab für die Qualität einer modernen Karte ihre Gegenständlichkeit, das heißt, wie akkurat, wirklichkeits- und detailgetreu sie die Erdoberfläche darstellt, so verfolgten muslimische Kartografen andere Absichten. Ihnen ging es darum – in Rapoports Worten –, „ein kompliziertes Material zu ordnen“ und damit das Gedächtnis zu entlasten. Die Methode, die sie dafür wählten, war die schematische Darstellung, die geometrische Vereinfachung, die radikale Abstraktion. Ihre Karten waren nicht Ausdruck gelehrter oder theologischer Spekulation, sondern praktisch zu gebrauchende Werkzeuge, die Fernhändlern und Pilgern geholfen haben mögen, ihre Reiserouten zu planen. Man kann sie mit heutigen U-Bahn-Plänen vergleichen, die ein Verkehrsnetz geometrisch stark vereinfacht abbilden und gerade so dem Fahrgast die Orientierung ermöglichen.

Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Weltkarte, die 1272 nach einem Entwurf des Geografen Abū Isḥāq al-Iṣṭakhrī gezeichnet wurde, dann muss man die Eleganz und Kühnheit dieses Entwurfs würdigen. Über al-Iṣṭakhrī weiß man nur, dass er wohl aus dem Iran stammte, in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts tätig war und einen geographischen Traktat mit Karten hinterließ, der ein eigenes literatisches Genre begründen sollte: das „Buch der Wege und Reiche“ (Kitāb al-masālik wa’l-mamālik). Seine zwanzig Regionalkarten ergeben laut Rapoport „einen regelrechten Atlas des Islam“. Die Weltkarte, die al-Iṣṭakhrī dazu zeichnete, sollte den Lesern seines Buchs helfen, die einzelnen Regionen auf der Erde und in ihrem Verhältnis zueinander zu verorten.

Bild: Bodleian Library Oxford / wbg Darmstadt

Süden mit Afrika liegt oben, durchschnitten vom schnurgeraden Nil und von Asien (links unten) durch den Indischen Ozean getrennt. Die Arabische Halbinsel fungiert als Verbindung, während Europa klein und schematisch als dreieckige Insel dargestellt ist, durch das Schwarze und das Mittelmeer vom Rest der Welt separiert. Die drei roten Kreise im Mittelmeer sind die Inseln Zypern, Kreta und Sizilien. Die gesamte alte Welt erscheint eingebettet in das „Umzingelnde Meer“ (Baḥr al-Muḥīṭ), von dem al-Iṣṭakhrī „wie alle mittelalterlichen Gelehrten vor Kolumbus“ (Rapoport) annahm, dass es auch die Rückseite der Erdkugel bedeckte.

[Die kreisförmige Darstellungsform, die typisch ist für vormoderne Weltkarten, kam jüngst übrigens wieder zu Ehren als realistischste mögliche Darstellung einer sphärischen Oberfläche auf einer zweidimensionalen Karte. Nicht nur deswegen mutet ihr Design erfrischend aktuell an.]

Bild: Bodleian Library Oxford / wbg Darmstadt

Ein Beispiel für die Regionalkarten in al-Iṣṭakhrīs „Buch der Wege und Reiche“ ist die des muslimischen Spanien und Nordafrikas. Hier ist Westen oben, also der Atlantik. Spanien ist als Halbkreis dargestellt, von den christlichen Reichen im Norden durch eine Linie abgetrennt. Sie liegen außerhalb der Karte. Achteckig in der Mitte des Halbkreises sitzt die Metropole Córdoba, von der aus Straßen in die verschiedenen Richtungen gehen. Entlang der Küsten sind weitere Städte aufgereiht, im Hinterland Nordafrikas (links) verläuft eine Straße, und ganz am linken Rand, also im Süden, ist purpurn der Sand der Sahara eingezeichnet. Der rote Kreis unten im grünen Mittelmeer ist Sizilien, der lila Berg darüber steht für den Felsen von Gibraltar. Wie gesagt: Der Zeichner wollte kein wirklichkeitsgetreues Abbild des westlichen Mittelmeeres schaffen, sondern ein Netz aus Verbindungen zwischen von Muslimen bewohnten Orten visualisieren. Und seine Karte war in erster Linie für Reisende an Land gedacht, nicht für Seefahrer.

Auf die Spitze getrieben wird die Abstraktion im „Buch der Merkwürdigkeiten der Wissenschaften und der Wunder für die Augen“ (Kitab al-gharāʾib al-funūn wa-mulaḥ al-ʿuyūn), das ein anonymer Autor irgendwann vor 1058 für die Herrscher der Fatimiden-Dynastie verfasste. Es wurde im Jahr 2000 bei einer Auktion in London wiederentdeckt und ist heute im Besitz der Bodleian Library in Oxford. Die Fatimiden beherrschten von Kairo aus weite Teile Nordafrikas, die Levante und Sizilien. Ihr Reich war zum Meer ausgerichtet und gründete sich auf Seemacht, was sich auch im „Buch der Merkwürdigkeiten“ widerspiegelt.

Darin findet sich etwa eine Karte, auf der das Mittelmeer als langgestrecktes Oval konzipiert ist. Der tatsächliche Küstenverlauf ist nicht einmal angedeutet. Entlang der Küste sind punktförmig 121 Häfen und Reeden aufgereiht. Im Meer liegen regelmäßig angeordnet 118 Inseln, die meisten schlicht als Kreise; nur Zypern und Sizilien bilden Rechtecke. Eine Detailkarte von Zypern ist ebenfalls vollkommen rechteckig. Wie Rapoport erklärt, enthalten diese extrem schematischen Karten in ihren Begleittexten dennoch eine Menge an Information, die für die Navigation von Belang war – „mehr als jede andere Karte, die wir vor der Zeit der Kreuzzüge kennen“.

Bild: Bodleian Library Oxford / wbg Darmstadt

Das „Buch der Merkwürdigkeiten“ birgt auch eine Weltkarte, die erste überhaupt in der Menschheits-Geschichte, die mit einem Maßstab versehen ist. Man sieht ihn oben rechts. Die Karte ist rechteckig und stellt nur den Teil der Welt dar, von dem der Autor wusste, dass er bewohnt war. Sonst ist die Anordnung dieselbe wie auf al-Iṣṭakhrīs Weltkarte: Süden ist oben, Europa unten rechts, Asien links. Der braune Halbkreis oben in der Mitte sind die legendären Mondberge, in denen schon Ptolemäus die Quellen des Nils verortet hatte. Wieder stehen rote Punkte für Häfen und Städte. Dazwischen sehen wir Flüsse, Gebirge und links unten eine Mauer: Hinter ihr sollen der Beschriftung zufolge die Völker Gog und Magog eingesperrt sein, die auch der christlichen Apokalyptik bekannt waren und von denen man annahm, dass sie am Ende der Zeiten über die Welt herfallen würden.

„Islamische Karten“ von Yossef Rapoport öffnet den Blick für eine fremde und ferne, zugleich seltsam vertraute Welt. Es ist ein in jeder Hinsicht illustratives Buch: großzügig bebildert, anschaulich geschrieben, und bietet eine gut lesbare, längst überfällige Einführung in die faszinierende Geschichte der islamischen Kartografie.

Zu guter Letzt ein Disclaimer: Rapoports Buch ist im selben Verlag erschienen wie meine Pigafetta-Neuübersetzung. Ich habe vom Verlag kein Rezensionsexemplar erhalten, sondern das Buch selbst käuflich erworben. Da ich von der Lektüre angetan war, stelle ich es auf meiner privaten Internet-Seite vor. Die Bilder hat mir die wbg auf Anfrage freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Frosch oder Vogel?

Veröffentlicht am 19. April 2021

Die gute alte Landkarte ist aus der Mode gekommen. Ich kenne etliche Leute, die auch auf längeren Wanderungen keine mehr in den Rucksack packen. Sie verlassen sich blind auf ihr Smartphone. Den Blick konzentriert aufs Display gerichtet marschieren sie zielstrebig und von Zweifeln unangefochten über Stock und Stein.

Doch selbst wenn ich ein Smartphone besäße, ohne gescheite Landkarte ginge ich ungern ins Gelände – es sei denn, ich kennte die Gegend wie meine Westentasche. Dass man gedruckte Karten bei Tageslicht ohne elektrischen Strom lesen kann, ist noch ihr geringster (wenn auch keineswegs gering zu schätzender) Vorzug. Weit höher achte ich, dass eine Karte dem Geist Flügel verleiht. Sie verwandelt mich von einem Frosch in einen Vogel. In der Theorie kann ein Smartphone zwar dasselbe. Aber weil sein Display so klein ist, macht es uns praktisch zu ferngesteuerten Fröschen.

Die Zeichen der Zeit

Veröffentlicht am 20. März 2021

Dieses Foto wurde heute vormittag ca. 25 Kilometer nördlich von Wien aufgenommen, knapp vor dem astronomischen Frühlingsanfang um 10:37 Uhr MEZ:

Was es sonst noch Neues gibt?

Meine Neu-Übersetzung von Antonio Pigafettas  Weltreisebericht, die seit Weihnachten vergriffen bzw. nur als „Book on Demand“ erhältlich war, ist endlich wieder lieferbar. Für alle, die es noch nicht wissen: Es ist die erste vollständige, orignalgetreue und farbig illustrierte deutsche Übersetzung dieses überaus lesenswerten Buches aus dem Jahr 1524.

Und am Dienstag, den 16. März 2021, jährte sich zum 500. Mal der Tag, an dem europäische Seefahrer erstmals der heutigen Philippinen ansichtig wurden.  Daniela Wakonigg hat aus dem Anlass für den WDR ein so stimmungsvolles wie nachdenklich stimmendes „Zeitzeichen“ produziert, zu dem ich ein Interview beisteuern durfte: hier nachzuhören.

Re-entry oder: Dieses Spiel geht nur zu zweit

Veröffentlicht am 8. März 2021

Heute ist der Tag, an dem eine gewisse sprachliche Unterscheidung große Beachtung findet: die von „Frau“ und „Mann“. Sie wird im Diskurs, jedenfalls seit dem 19. Jahrhundert, vielfach als sozialer Antagonismus verhandelt, der sich mit einem Modell der Spieltheorie als Kampf der Geschlechter oder auch, unter Rückgriff auf Hegel, als Dialektik von Magd und Herr beschreiben lässt. Beides hat viel für sich, aber heute will ich einen anderen Zugang zu diesem Thema wählen.

Nach einer Denkfigur von Niklas Luhmann (die Luhmann wiederum dem Logiker George Spencer Brown abgeschaut hat) kann jegliche Unterscheidung in einem zweiten Schritt auf die eine Seite des Unterschiedenen angewendet werden. Luhmann nennt diese Operation (wiederum mit George Spencer Brown) „re-entry“. Im Fall der Unterscheidung „Frau/Mann“ hieße das, dass die als Frau oder Mann markierten Personen ihrerseits im Hinblick auf ihre weiblichen oder männlichen Seiten unterschieden werden können. Mit anderen Worten, eine Beobachterin kann eine Frau als ausgesprochen feminin oder im Gegenteil als maskulin beschreiben und ebenso einen Mann als effeminiert oder eben viril.

Betrachte ich den aktuellen Diskurs um die Rollen von Frau und Mann unter der Figur des „re-entry“, nehme ich vorherrschend eine (oft unausgesprochene) normative Präferenz für die männliche Seite der Unterscheidung wahr. Wer die Gleichstellung der Frau fordert, meint in der Regel den Zugang von Frauen zu sozialen Rollen, die bis vor wenigen Generationen Männern vorbehalten waren: Rollen, die vor allem der sogenannten Arbeitswelt zuzordnen sind, und innerhalb dieser insbesondere Führungsrollen. Frauen, so wird implizit angenommen, wollen und sollen wie Männer Karriere machen und deren Rollen besetzen. Sie sollen mit Männern – und anderen Frauen – um Erfolg, Prestige, Einfluss, Geld, kurzum sozialen Status konkurrieren.

So sehr ich (im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten) die Forderung nach Gleichstellung unterstütze, so einseitig finde ich sie. Zugespitzt formuliert läuft der Diskurs darauf hinaus, dass Frauen möglichst wie Männer werden sollen und dass die Gesellschaft ihnen diese Möglichkeit einzuräumen habe. Traditionell weiblich definierte Rollen wie insbesondere das Aufziehen von Kindern und, damit räumlich verbunden, die Sorge für den Haushalt erscheinen dabei vorwiegend als lästiges Hindernis für die beruflichen Karrieren von Frauen, das ausgeräumt werden muss.

Bild: AnonMoos, toa267, Public domain, via Wikimedia Commons

Gelingen soll das a) durch technische Errungenschaften, die die Hausarbeit (oft nur scheinbar) erleichtern (und de facto oft vermehren, weil sie Perfektionsansprüche fördern), b) durch die Auslagerung häuslicher Arbeit, sofern möglich, an sozial schwächere Menschen (also in den meisten Fällen wieder an Frauen), oder c) indem die männlichen Partner einen größeren Anteil an besagter Arbeit übernehmen. Männer, die nicht imstande sind, ihre Frauen durch Methode a) oder b) zu entlasten und daher selbst Hausarbeit und Kinderbetreuung leisten müssen, erleiden nach der Spieltheorie einen Verlust, weil sie ein gesellschaftlich höher bewertetes, „männliches“ Gut – beruflichen Erfolg – gegen ein geringerwertiges, „weibliches“ eintauschen müssen.

Als unsere Tochter auf die Welt kam, hatte auch ich das skizzierte Werteschema im Kopf, und als liberaler und fortschrittlicher Mann, der ich mich dünkte, war ich bereit, meinen Beitrag zu leisten, damit meine hochintelligente, gut ausgebildete Frau möglichst rasch nach der Geburt in ihren Beruf zurückkehren konnte. Meine Frau und ich waren uns daher einig, die Betreuung unserer Tochter während der ersten Lebensjahre so aufzuteilen, dass in Summe jede von uns in etwa die Hälfte übernehmen würde. Im Großen und Ganzen, denke ich, ist die Rechnung für uns beide aufgegangen, auch seitdem einige Jahre später ein Sohn dazugekommen ist. Was sich jedoch im Lauf der Zeit geändert hat, ist unsere Motivation.

Ging es vor allem mir anfangs darum, meiner Frau den Rücken für ihre berufliche Selbstverwirklichung freizuhalten, so empfinde ich es heute als Glück für mich, dass ich so viel Verantwortung für die Kinder übernehmen, so viel Zeit mit ihnen verbringen durfte und – in altersbedingt abnehmendem Umfang – noch darf. Meine Kinder haben mich gelehrt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, und sie haben mir selbst quasi eine zweite Kindheit ermöglicht, ein emotionales Abenteuer, das meine Persönlichkeit verändert hat in einer Weise, die ich als Befreiung und Bereicherung erlebe. Sie ließe sich mit Luhmann und George Spencer Brown als „re-entry“ des Weiblichen in mein männlich sozialisiertes Ego beschreiben.

Aus dieser Erfahrung heraus bemängele ich, dass im Diskurs um die Befreiung der Frau die männliche Seite der Unterscheidung dominiert. Frauen sollen noch immer frei werden von Kindern und Haushalt und für die Männerwelt bezahlter Arbeit, auf dass sie in ihr Karriere machen und viel Geld verdienen, Männer wiederum ihre Plätze freimachen und lernen, sich mit einem geringeren gesellschaftlichen Status zu bescheiden, wie er weiblichen Rollen zugemessen wird. Die Gleichstellung der Frau erscheint so als Nullsummenspiel. Dabei geht es für uns Männer gar nicht darum, etwas zu verlieren, sondern zu gewinnen. Daran möchte ich am Weltfrauentag erinnern.

Skifoan!

Veröffentlicht am 22. Februar 2021

Wer Anfang der siebziger Jahre in Norddeutschland zur Welt kam, dem wurden die Ski nicht in die Wiege gelegt, schon gar nicht in der Gesellschaftsschicht, in die ich geboren wurde. Die Alpen waren weit weg, und Winterurlaub war teuer. Unbelastet von eigenen Erfahrungen mit dieser Sportart konnte ich mir also in aller Ruhe eine Meinung über sie bilden, welche lautete: Skifahren ist nichts für mich! Ich stellte mir darunter so etwas wie Eislaufen vor, nur viel grauslicher, weil man beim Skifahren nicht bloß auf wackligen Sohlen unwillkürlich in irgendeine Richtung schlitterte und dann hinfiel, sondern das ganze auch noch bergab.

Dann kam der Tag, da ich in eine österreichische Familie einheiratete und die Eltern meiner Frau uns in den Skiurlaub einluden. Die Einladung auszuschlagen, wäre unhöflich gewesen. Und obwohl ich fand, mit über dreißig viel zu alt zu sein, erklärte ich mich bereit, einen Tag mit meiner Schwiegermutter – die als Lehrerin etliche Schulskikurse begleitet hatte – auf den „Deppenhügel“ zu gehen, um mich in den Grundlagen des alpinen Skilaufs unterweisen zu lassen. Insgeheim gedachte ich im Laufe des Tages meine Untauglichkeit zu diesem Sport so gründlich unter Beweis zu stellen, dass nie wieder jemand auf die Idee käme, mich dazu ermuntern zu wollen.

Was gute Pädagogik doch bewirken kann …

Am nächsten Nachmittag fuhr ich bereits, wenn auch hauptsächlich zur Belustigung – oder Verärgerung – der übrigen Skifahrer, meine erste „rote“ Piste hinab, und aus dem Urlaub heimgekehrt war das erste, was ich tat, beim Alpenverein einen „Tiefschnee-Schnupperkurs“ zu buchen. Der Kurs trug seinen Namen völlig zu Recht – jedenfalls was mich betraf, denn die meiste Zeit lag ich mit der Nase im Schnee. Meiner Begeisterung tat das keinen Abbruch. Sie hält bis heute an, obwohl ich den Rummel der großen Skigebiete schon lange leid bin, ebenso wie die bretthart präparierten Kunstschnee-Pisten und die horrenden Preise, die man für eine Liftkarte zahlt. Aber eine gemächliche Skitour durch die stille Landschaft, ein paar beherzte Schwünge durch Pulver oder Firn – was gäbe es Schöneres zur Winterzeit!

Auf die Piste gehen wir auch noch ab und an, hauptsächlich der Kinder wegen, damit sie an die frische Luft kommen und sich bewegen, was uns in diesem Winter noch dringlicher erscheint als sonst, wo doch alle Sportvereine, alle Schwimmbäder und Turnhallen stillgelegt sind. Von den skandalösen Zuständen, über die in den Medien berichtet wurde, haben wir in den Skigebieten im Osten Österreichs allerdings nichts bemerkt. Auch wenn zum Teil einiges los war: Die Liftbetreiber hatten Regeln für einen sicheren Betrieb festgelegt und sorgten, sofern nötig, für deren Einhaltung. Die allermeisten Leute hielten eh Abstand und trugen Masken. Statt einer heißen „Supp‘n“ zu Mittag und beschallter Hüttengaudi gab es geschmierte Brote und Tee aus der Thermoskanne am Parkplatz. Und dann hieß es wieder „nix wie aufi“!

Hauptsache gesund

Aktualisiert am 22. Februar 2021

Es ist eine Weile her, da las ich in der Zeitung ein Interview mit dem vormaligen Chef einer der größten österreichischen Banken. Nach Jahrzehnten verantwortungsvoller Tätigkeit an der Spitze seines Instituts war der Mann kürzlich in Pension gegangen und wollte sich nun dem Aufbau einer Stiftung widmen, die den löblichen Zweck hat, das allgemeine Niveau finanzieller und kaufmännischer Bildung zu heben. Diese lasse nicht nur in Österreich zu wünschen übrig, klagte der Interviewte und setzte hinzu: „Denn finanzielle Gesundheit“ sei „nach der physischen Gesundheit das Zweitwichtigste.“

So ist das also, dachte ich mir damals: Wenn einer nicht alle Tassen im Schrank hat, ist das anscheinend halb so wild, solange nur seine Leber gesund und sein Bankkonto gut gefüllt ist. Geistige oder psychische Gesundheit, um von seelischer gar nicht zu reden, schien für diesen Herrn kein nennenswertes Gut zu sein. Und ich fragte mich, ob sein Denken repräsentativ sei für Menschen seines Schlages, die als Führer der größten Firmen des Landes maßgeblichen Einfluss auf den Kurs der österreichischen Wirtschaft, ja der Gesellschaft insgesamt ausüben.

Heute neige ich dazu, diese Frage zu bejahen. Schaue ich mir nämlich an, nach welchen Prioritäten hierzulande, aber auch anderswo der Kampf gegen das Coronavirus geführt wird, so habe ich den Eindruck, dass es in diesem Kampf nur darum geht, das physische Überleben der Bevölkerung zu sichern und die Wirtschaft irgendwie am Laufen zu halten. Dafür stehen scheinbar unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Bildung, Kultur, überhaupt alles, was sonst Menschen geistig und psychisch stärkt, spielt dagegen so gut wie keine Rolle. Schulen werden zu- und Heranwachsende monatelang zu Hause eingesperrt, ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen. Sportvereine lahmgelegt. Kinos, Theater, Bibliotheken, Museen und Konzertsäle verschlossen. Familien voneinander getrennt, Alte abgesondert und Sterbende allein gelassen.

Nein, auch ich habe keine Patentlösung parat. Aber je mehr die „Krise“ zum Normalzustand wird, desto deutlicher erkenne ich, was in unserer Gesellschaft wirklich von Belang ist. Kinder, ihre Zukunft, Bildung, Kultur und überhaupt das innere Glück der Menschen zählen offensichtlich nicht dazu. Es offenbart sich das Menschenbild einer Politik, die die Stimmungen der breiten Masse und die Interessen einer kleinen Minderheit bedient.

Siehe auch

Pigafetta im Radio

Veröffentlicht am 12. Januar 2021

Thomas Haunschmid hat für den österreichischen Kultursender Ö1 eine Besprechung meiner Neuübersetzung von Antonio Pigafettas Weltreisebericht produziert:

Furchtsame Weltumsegler

Bereits im Dezember ist eine Besprechung von Frank Kaspar im Deutschlandfunk gesendet worden, die ich ebenfalls sehr gelungen finde:

Augenzeuge der Kolonisierung

Da die erste Auflage des Buches schon ausverkauft ist, kann man es zur Zeit nur als Book on Demand oder eBook erwerben. Wie mir jedoch versichert wurde, ist eine Neuauflage in Vorbereitung.

Die erste Reise um die Welt. An Bord mit Magellan

Maßloses Wünschen

Veröffentlicht am 22. Dezember 2020

Wir können den Kindern nicht alle Wünsche erfüllen, auch nicht zu Weihnachten. Sie werden heuer wieder keinen Hund bekommen, obwohl ein Vierbeiner ganz oben auf beider Wunschzettel stand. Auch ein anderer Wunsch wird leider nicht in Erfüllung gehen: weiße Weihnachten. Aber das ist ja nichts Neues. Außerdem haben unsere Kinder das Alter magischen Denkens und des Glaubens an die grenzenlose Macht der Eltern längst hinter sich gelassen. Neu ist allerdings, dass ein weiterer Herzenswunsch, der sonst zum Jahreswechsel wahr zu werden pflegt, diesmal unerfüllt bleiben muss: die Großeltern und Cousins im fernen Deutschland wiederzusehen. Das heißt, Sehen wäre ja nicht das Problem, dank Zoom, Skype & Co. Aber wie die Tochter sagt: Das ist nicht dasselbe. Sie hat recht, finde ich.

Es folgt ein Bekenntnis:

Ich bin kein Corona-Leugner. Ich trage keinen Aluhut und fürchte nicht, dass ein philantropischer Milliardär aus Seattle uns alle zwangsimpfen will. Ich halte es für sinnvoll und ethisch richtig, dass eine Gesellschaft koordinierte Anstrengungen unternimmt, um eine Infektionskrankheit einzudämmen, die das Leben und die Gesundheit vieler Menschen bedroht. Auch wenn wir uns um unsertwillen nicht vor dem Coronavirus fürchten, tragen meine Frau, unsere Kinder und ich bisher alle verordneten Maßnahmen klaglos mit. Wir tragen also in der Öffentlichkeit MNS-Masken, halten Abstand zu anderen Menschen, bleiben die meiste Zeit zuhause, empfangen keinen Besuch mehr, organisieren, wenn die Schulen wieder mal zusperren, den Heimunterrricht, sind zum Massentest gegangen, achten noch mehr als sonst darauf, uns nicht zu verletzen, um ja keine Spitalskapazitäten zu binden, tun im Übrigen unsere Arbeit und geben fleißig Geld aus, damit die Wirtschaft nicht den Bach runtergeht.

Manche sagen, so ein Leben, wie wir es jetzt führen, sei kein Leben mehr. Das finde ich übertrieben. Reduktion, richtig verstanden, ist immer auch Gewinn, und solange es Bücher gibt und man, wie wir, nach draußen gehen kann, kann vom Ende des Lebens keine Rede sein. Aber auch an mir nagen zunehmend Zweifel, ob die im Wochentakt verordneten Maßnahmen noch in einem angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der Gefahr stehen, dem wir als Gesellschaft – nicht als Individuen – ausgesetzt sind. Ich frage mich, ob unsere Ängste auf der einen Seite und auf der anderen der Wunsch, alle Gefahren und Fährnisse des Lebens kontrollieren oder gar ausschließen zu können, nicht eine unheilige Allianz eingegangen sind. Als ich neulich jemandem erzählte, meine Frau und ich seien mit zwei anderen Menschen, die nicht in unserem Haushalt leben, im Wald spazieren gewesen, wurde ich ernsthaft gefragt, ob wir das denn „verantworten“ könnten …

In der Weihnachtsgeschichte kommt dieser Satz vor, den der Engel zu den Hirten spricht: Fürchtet euch nicht! Das ist leicht gesagt, vor allem, wenn man ein Engel ist. Dennoch weckt der Satz einen Wunsch in mir, von dem ich allerdings nicht weiß, wer ihn mir erfüllen kann. Ich wünsche mir, dass wir alle uns im neuen Jahr weniger von unseren Ängsten regieren lassen.

Weiße Götter, braune Naturkinder

Kritische Anmerkungen zu Stefan Zweigs biografischem Roman Magellan. Der Mann und seine Tat

Veröffentlicht am 26. November 2020

Als ich dem Verlag C.H. Beck im Frühjahr 2016 vorschlug, ein Buch über Magellan und die erste historisch bezeugte Weltumrundung zu machen, ahnte ich nicht, dass mich der Mann und die Taten, die ihm nachgesagt werden, fast fünf Jahre später noch beschäftigen würden. Das Buch, das pünktlich zum 500. Jahrestag von Magellans Aufbruch Richtung Ostasien 2019 herauskam, ist inzwischen in dritter Auflage erhältlich und in seinem Kielwasser segelt seit vergangenem September ein weiteres: meine Neu-Übersetzung des Reiseberichts von Antonio Pigafetta, die erste vollständige und originalgetreue Übersetzung dieses höchst lesenswerten Textes in die deutsche Sprache. Anscheinend bewegen die Abenteuer frühneuzeitlicher Seefahrer auch die Menschen des 21. Jahrhunderts – und bewegen sie sogar dazu, Bücher zu verlegen und zu lesen!

Stefan Zweig
Bild: Brazilian National Archives, Public domain, via Wikimedia Commons

Aber welche Bücher? Im Zuge meiner Recherchen für das Magellan-Buch las ich natürlich auch Stefan Zweigs romanhafte Darstellung des Stoffes aus den 1930er Jahren, abermals nicht ahnend, dass auch dieser Mann und seine schriftstellerische Tat mich noch Jahre später geistig in Beschlag nehmen würden. Vor allem war mir nicht bewusst, wie sehr die literarische Figur Magellan, die Stefan Zweig erschaffen hat, bis heute das Bild prägt, das sich viele Menschen von der historischen Person machen, die dahinter steht: dem portugiesischen Ritter Fernão de Magalhães.

Nun ist die Unterscheidung von Literatur und Geschichte eine künstliche und unscharfe. Die Grenzen zwischen beiden Genres sind fließend. Das kann man sehr gut an Zweigs Magellan und der Rezeption seines Buchs studieren. Zweig hatte seinen Stoff gründlich recherchiert, und die äußere Handlung seiner Erzählung entspricht weitgehend dem, was zu seiner Zeit in der nicht-fiktiven Literatur – also in dem, was wir heute Sachbücher nennen – über Magellan und die erste Erdumsegelung nachzulesen war. In der Einleitung erklärte Zweig ausdrücklich, er habe Magellans Geschichte „nach allen erreichbaren Dokumenten möglichst der Wirklichkeit getreu“ dargestellt. Seine Leserinnen und Leser könnten daher auf die Idee kommen, ein literarisch geschriebenes Sachbuch („literary non-fiction“) in den Händen zu halten, das den Maßstäben historischer Kritik standhält und ein realistisches Bild der erzählten Zeit, der Welt des 16. Jahrhunderts, zeichnet. Doch das ist mitnichten der Fall.

Fiktives Portät Magellans vom Ende des 16. Jahrhunderts.
Bild: Crispijn van de Passe, Public domain, via Wikimedia Commons

Aus der Sicht historischer Wissenschaft, zumal des 21. Jahrhunderts, ist Zweigs Magellan ein durch und durch anachronistischer Text. Während die äußere Handlung im 16. Jahrhundert spielt und die meisten der geschilderten Ereignisse durch historische Quellen verbürgt sind, sind Zweigs Aussagen über die Psyche seines Helden und das, was man sein inneres Drama nennen kann, pure Fiktion. Dasselbe gilt für viele kausale Zuschreibungen, die der Autor vornimmt, das heißt seine Erklärungen, warum dies oder jenes geschehen sei. Für all diese Aussagen und Zuschreibungen fehlen nicht nur jegliche historischen Belege. Sondern sie sind auch höchst unwahrscheinlich – zumindest für jeden, der mit der Welt des 16. Jahrhunderts nur ein bisschen vertraut ist. Das innere Drama von Zweigs Magellan spielt mithin nicht im 16., sondern im 20. Jahrhundert. Es ist eine Erfindung des Autors. Man könnte auch sagen: Es ist das innere Drama des Stefan Zweig.

Dieser Befund wäre nicht langer Rede wert, wenn Zweigs Geschichtsklitterung nicht bis heute eine derartige Wirkung ausüben würde. Zweigs Magellan ist Wind auf die Mühlen all derer, die noch immer glauben, dass die Geschichte (jedenfalls bis zum Amtsantritt von Angela Merkel) von großen Männern gemacht wurde. Von großen weißen Männern, versteht sich.

Anachronistisch ist dieses Geschichtsbild deshalb, weil Magellan für einen Großteil der Taten, die Zweig ihm zuschreibt, keineswegs verantwortlich war – für andere, von denen Zweig ihn freispricht, hingegen sehr wohl. Magellan hatte, soweit wir wissen können, niemals die Absicht, die Erde zu umrunden oder gar zu „beweisen“, dass die Erde rund ist. Nicht einmal die Idee, im Süden Amerikas eine Durchfahrt nach Asien zu suchen, stammte von ihm selbst. Dieses Ziel verfolgten seine Auftrag- und Geldgeber in Kastilien, der königliche Rat und Bischof Juan Rodríguez de Fonseca und der Kaufmann Cristóbal de Haro, schon mehr als ein Jahrzehnt,  bevor sie Magellan an Bord holten. Fonseca und Haro waren die Drahtzieher des Molukken-Unternehmens. Magellans Rolle lässt sich am ehesten als die eines „Geschäftsführers im Außendienst“ beschreiben.

Zweigs Romanfigur Magellan ist, auch dies ein Anachronismus, ein typischer sozialer Aufsteiger, wie ihn die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts so verehrte: ein „unbekannter Soldat“, der aufgrund seiner außerordentlichen Talente eine atemberaubende Karriere macht. In Wirklichkeit gehörte Magellan qua Geburt einer hauchdünnen Schicht privilegierter Adliger an, und gewiss hat er niemals, wie Zweig sich zusammenfantasiert, eigenhändig ein Segel gerefft oder gar an einer Lenzpumpe geschwitzt. Dafür hatte man zu Magellans Zeit Schiffsjungen beziehungsweise Sklaven.

Die Flotte, die sich Magellan bei Stefan Zweig ganz allein aus eigener Kraft und nach eigener Idee erschuf, wurde in Wirklichkeit nach genauen Vorgaben Fonsecas von Beamten und Agenten der kastilischen Kolonialbürokratie auf Kiel gelegt, die in diesem Metier auf zwanzig Jahre Erfahrung zurückgreifen konnten. Auch die Tauschwaren, die die Flotte für den Handel mitführte, hat keineswegs Magellan aufgrund seiner vermeintlich langjährigen Erfahrung mit außereuropäischen „Naturkindern“ zusammengestellt, sondern wiederum Fonseca persönlich. Dafür war es Magellan, der in Patagonien aus eigener Initiative zwei großgewachsene Einheimische kidnappen ließ und zu diesem Zweck, wie Antonio Pigafetta in seinem Reisebericht bezeugt, eine schäbige List anwandte. Zweig fabuliert an dieser Stelle von einem angeblichen „Auftrag“ der spanischen Regierung, der nirgendwo dokumentiert ist, und schiebt die List den Matrosen in die Schuhe, die lediglich Magellans Befehle ausführten.

„Patagonier an der Schwelle ihrer Behausung“.
Bild: Arturo W. Boote. Photographe, Public domain, via Wikimedia Commons

Völlig anachronistisch ist schließlich auch Zweigs Darstellung der verschiedenen nicht-europäischen Gesellschaften, mit denen Magellan und seine Mannen im Lauf ihrer langen Fahrt zusammentrafen: die Tupi im heutigen Brasilien, die Vorfahren der Tehuelche im heutigen Patagonien, die Chamorros auf Guam, die Visayer auf den heutigen Philippinen und die Molukker. Für Zweig waren sie alle „Naturkinder“ und vor allem allesamt „braun“. Alle sind sie in seinem Roman ohne Unterschied kindliche, naive und zumeist gutmütige „Narren“, die zu den „weißen Göttern“ aus Europa ehrfurchts- und vertrauensvoll aufblicken.

Dass Europäer dieses Vertrauen  allzu oft missbrauchten, beklagt der Humanist Zweig mit aufrichtigem Herzen. Seinen Helden Magellan will er von solcher Kritik freilich ausgenommen wissen (s.o.). Als Magellan auf den Visayas einige Dörfer mit Krieg überzog, um seinen Herrschaftsanspruch mit Gewalt zu untermauern, handelte er nach Zweig bloß aus einem „Gefühl der Pflicht“ heraus und weil er gegen einen „störrischen“ Häuptling „keine andere Wahl als das Argument der Waffe“ hatte. Bekanntlich verfügte sein Gegner, der Datu Lapulapu, über die stärkeren Argumente, und so fiel Magellan am 27. April 1521 im Kampf auf Mactan. Dass sein Held „durch ein lächerliches Menscheninsekt“, durch „einen braunen Lümmel, der keine ungeflickte Matte in seiner dreckigen Hütte“ hatte, „gefällt“ wurde, konnte Stefan Zweig offenbar nur schwer verwinden. An dieser Schlüsselstelle des Romans weicht die Attitüde wohlwollender Herablassung, die der Autor den „braunen Naturkindern“ gegenüber sonst an den Tag legt, unverhohlener Aggressivität.

Lapulapu erschlägt Magellan. Gemälde im Lapulapu Shrine, Mactan
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Die Menschen außereuropäischer Kulturen, mit denen Magellan auf seiner Fahrt zusammentraf, stellt Zweig durchwegs so dar, als stünden sie auf einer niedrigeren kulturellen und geistigen Entwicklungsstufe – so weit unten, dass ihre Kultur und Lebensformen gar nicht interessieren. Stattdessen werden sie unterschiedslos mit dem Klischee des unbedarft-gutmütigen Wilden belegt oder, wie „die Feuerländer“ im Vorbeifahren als „kulturell völlig niedere Rasse“ abgetan. Indem er den vermeintlichen Entwicklungsstufen menschlicher Gesellschaften eindeutige Hautfarben zuwies („braune Naturkinder“ – „weiße Götter“), benutzte Zweig einen rassistischen Code, der dem 16. Jahrhundert so fremd war, wie wir ihn heute unerträglich finden.

Das alles heißt natürlich keinesfalls, dass man Zweigs Magellan nicht mehr lesen oder das Buch gar auf irgendeinen Index setzen sollte. Aber wer es liest, sollte sich bewusst machen, dass er oder sie darin wenig über einen Seefahrer des frühen 16. Jahrhunderts erfährt, dafür umso mehr über die Fantasien eines österreichischen Großbürgers der 1930er Jahre, den die Selbstzerfleischung seiner eigenen Kultur ins Exil und in die Verzweiflung trieb.

Siehe auch:

Die fehlenden Strophen des Weltgedichts, erschienen am 24.10.2019 in Die Furche.

Diskussion im Literaturmuseum der ÖNB mit Arnhild Inguglia-Höfle, Arturo Larcati und Bernhard Fetz am 10. Juni 2021 anlässlich der Präsentation des Begleitbuchs zur Sonderausstellung „Stefan Zweig. Weltautor“.