Unsere Tochter lernt seit Beginn dieses Schuljahrs Russisch. Das Curriculum ihrer Schule verlangt eine dritte Fremdsprache. Französisch und Russisch standen zur Wahl. Ich glaube, dass sie sich aus Neugier für Letzteres entschieden hat. Russisch war für sie exotischer und damit interessanter.
Als der Kurs zusammentrat, zeigte sich, dass nur drei von 15 Schülerinnen und Schülern als Muttersprache Deutsch hatten. Die anderen sind mit zumeist slawischen Sprachen aufgewachsen, einzelne mit Russisch. Auch die Lehrerin ist Russin, im übrigen eine liebe Frau und engagierte Pädagogin, sodass das neue Fach unserer Tochter bald Spaß zu machen begann.
Doch die Freude ist mittlerweile verflogen. Das liegt weder an der Lehrerin noch an der Klasse oder etwa schulischen Misserfolgen. Vor ein paar Tagen sagte unsere Tochter beim Abendbrot, dass sie keinen Sinne darin sehe, die Sprache eines Landes zu lernen, das „solche Sachen macht“. Mit „solchen Sachen“ meinte sie den massenhaften Aufmarsch russischen Militärs an den Grenzen zur Ukraine. Was auch immer der Grund für diesen Aufmarsch ist, die russische Militärmaschinerie wirkt bedrohlich und gibt alles, nur kein sympathisches Bild ab.
Wir haben unserer Tochter gesagt, dass man unterscheiden müsse zwischen dem russischen Volk und der russischen Regierung. Was auch immer die Regierung im Sinn habe, die meisten Menschen in Russland wollten so wie wir in Frieden leben. Es seien nach unserer Erfahrung sehr herzliche, gastfreundliche Menschen, und es lohne bestimmt, ihre Sprache zu lernen.
Aber warum, fragte unsere Tochter, würden die Menschen in Russland dann zulassen, dass ihre Regierung andere Staaten bedroht? Warum würden die russischen Soldaten tun, was ihre Regierung sagt?
Darauf wussten wir keine rechte Antwort. Wir fragten unsere Tochter, ob sie schon im Unterricht über die Situation gesprochen hätten. Sie sagte, nur mit ihren Freundinnen, aber nicht mit der ganzen Klasse. Sie habe den Eindruck, dass die Lehrerin vermeide, über die politische Lage in Russland zu reden, vermutlichaus Angst, dass die Diskussioneskalieren könnte. Einige in der Klasse kämen nämlich aus Polen und der Ukraine, andere aus Russland, unddie Stimmung sei ziemlich angespannt.
Was auch immer die russische Regierung in der Ukraine zu gewinnen hofft, die Herzen in Europa gewinnt sie damit kaum – auch nicht unter den wenigen jungen Menschen, die hierzulande Russisch lernen. Aber wozu auch braucht eine Großmacht wie Russland Freunde an einem Wiener Gymnasium?
Ergänzung am 1. März 2022
Als das Vorstehende geschrieben wurde, Anfang vergangener Woche, wollte auch ich noch nicht glauben, dass die russische Regierung Ernst machen und die Ukraine mit einem vorgestrigen Landkrieg überziehen würde. Seit dem Tag des Angriffs wird in der Russisch-Klasse unserer Tochter endlich über all das geredet, ausgiebig und offen. Die Oma einer Schülerin sitzt in Kiew, sitzt im Wortsinn, denn sie ist an den Rollstuhl gefesselt und kann nicht in den Luftschutzkeller fliehen. Die Lehrerin erzählt von einer Freundin in Russland, deren Sohn zum russischen Militär eingezogen wurde und die seit Tagen vergeblich in Erfahrung zu bringen versucht, wo ihr Sohn ist und wie es ihm geht. Schülerinnen und Lehrerin sprechen über ihre Ängste und ihren Schmerz. Es ist nur ein schwacher Trost – aber immerhin ein Trost, dass wenigstens in dieser Schulklasse kein Krieg herrscht.
Seit mehr als einer Woche leisten also auch wir unseren Beitrag zum Erreichen der Herdenimmunität. Nachdem unser Sohn das Virus aus der Schule eingeschleppt hatte und krank wurde, ging es wie bei den Dominosteinen: Zwei Tage später ist meine Frau umgefallen, tags darauf ich, nur unsere Tochter trotzt bisher standhaft den unsichtbaren Invasoren. Wie es scheint, haben wir gottlob eh nur das, was die Virologen einen „milden Verlauf“ nennen. Aber auch wenn das Virus altersmilde geworden sein mag: Wir waren bloß froh, dass unsere Kinder aus dem Gröbsten heraus sind. Was Eltern von – womöglich gar erkrankten – Kleinkindern durchmachen, wenn sich beide gleichzeitig das Coronavirus einfangen, möchte ich mir nicht ausmalen. Knockout und Quarantäne sind schon keine gute Kombi. Aber Kleinkinder würden ihr die Krone aufsetzen.
Wer blöde Kalauer machen kann, muss sich auf dem Weg der Besserung befinden. Auch ein wieder erwachtes Interesse für die Außenwelt gilt ja gemeinhin als gutes Zeichen bei einem Kranken. Ob dieses Interesse seiner Rekonvaleszenz förderlich ist, steht auf einem anderen Paper. Der erste Blick über den Tellerrand unseres Quarantänehaushalts galt natürlich der allgemeinen Pandemielage. Und da lese ich gleich die Meldung, Herr Lauterbach habe getwittert: „Studien legen nahe, dass man sich relativ kurz nach der Infektion (mit ‚Omicron‘) wieder anstecken kann.“ Ich kann schon verstehen, warum dieser Mann vielen so sympathisch ist. Er ist immer so aufbauend. Aber hatte Herr Drosten nicht gerade erst erklärt, dass man nach drei Impfdosen und anschließender Infektion „auf Jahre hinaus“ immun sei? Frag zwei Ärzte, und du kriegst drei Antworten.
Wobei man als Laie ja froh sein kann, wenn diese Götter in Weiß in normaler Sprache zu einem sprechen. Auf orf.at wird ausgiebig Katharina Reich zitiert. Die Dame ist Vorsitzende der GECKO, der „Gesamtstaatlichen Krisenkoordination“, die am Wochenende ihre Strategie für den Herbst präsentiert hat. Diese beinhaltet eine Auffrischungsimpfung im September. Weil: „Dies nicht nur, um den Individualschutz zu verbessern, sondern auch den kurz dauernden infektions- und transmissionsreduzierenden Effekt der Boosterungen (den wir ja auch schon bisher gesehen haben) strategisch besonders gut für die Herbstwellendämpfung auszunützen. Dieser Effekt wird vor allem über die Antikörperbildung mediiert, die post-booster besonders gut ist.“
Das wird jedem Impfskeptiker unschwer einleuchten.
Wen wundert es da, wenn viele Menschen lieber Ricardo Leppe zuhören. Auf allen einschlägigen Kanälen holt der sympathische Jungunternehmer aus dem niederösterreichischen Gloggnitz die Menschen genau dort ab, wo sie sind. Ein Menschenfischer, der im Netz seine Netze auswirft: „Wenn’s dich hier schon mal hergetrieben hat, dann wirst du vielleicht auch spüren, da draußen, da passt irgendwo was nicht. Die einen fressen sich zu Tode, und die anderen haben nichts zum Essen. Da rennt doch irgendwas schief. Oder wo es dann heißt, nein, wir sind doch die höchst fortgeschrittene Zivilisation überhaupt, aber wir sind fast alle so krank wie noch nie … da passt doch irgendwas nicht zusammen.“
Was nicht passt, wird passend gemacht – dank Ricardo Leppe, der das Übel an der Wurzel packt, nämlich den Staat an seinem Bildungsystem. Mit seinem Aufruf, den öffentlichen Schule den Rücken zu kehren, findet er offenbar wachsenden Zulauf, vor allem unter Menschen, die Probleme mit dem Impfen haben.
Ich habe unsere Tochter gefragt, was sie besser fände, wenn sie die Wahl hätte: mit uns in den Wald oder in die Schule zu gehen? Die Arme, obwohl „pumperlg’sund“, hockt seit mehr als einer Woche in freiwilliger Quarantäne mit uns zuhause herum, um niemanden versehentlich anzustecken. Sie hat nur die Augen verdreht und geseufzt: „Ich wäre so gern bei meinen Freunden in der Schule“. Noch lieber wäre sie jetzt allerdings irgendwo im Süden am Meer. Wie sind eigentlich die Strände in Peru, Herr Leppe?
Nachträglicher Vorschlag am 8. Februar 2022
Warum nimmt unsere Regierung eigentlich nicht Herrn Leppe unter Vertrag, damit er für die Impfpflicht wirbt? Gewiss hat der Mann seine Prinzipien, und Prinzipien haben ihren Preis. Aber er scheint auch Geschäftssinn zu haben, und nachdem sich der Bund durch den Ausfall der Impflotterie 1,5 Milliarden Euro erspart, sollte das doch Spielraum für ein diskutables Angebot eröffnen. Gloggnitz wäre jedenfalls ein pittoresker Ort für ein Damaskus-Erlebnis …
Was FM4 angeht, war ich ja ein Spätberufener. Obwohl ich den Rundfunksender lange vorher kannte, habe ich ihn erst mit Anfang Vierzig so richtig entdeckt, dann aber so richtig, dass ich lang keinen anderen mehr gehört habe. Über Jahre hinweg blieb der Drehregler des alten Blaupunkt-Kofferradios in unserer Küche auf 103,8 MHz gestellt, und wenn ich der Hausarbeit nachging, kam mit den Wellen, die der Sender Kahlenberg auf dieser Frequenz ins Weinviertel ausstrahlt, ein wenig Weltläufigkeit und Progressivität in mein retardiertes Provinzdasein.
Es war nicht so sehr, dass ich mich beim Hören von FM4 wieder jung fühlte. Eher war es der verspätete Genuss, zuhörend am Lebensgefühl einer Jugend teilzuhaben, die anders als meine nicht in den Zwängen einerbildungsbürgerliche Erziehung und der Auflehnung dagegen stecken geblieben war. FM4 klang einfach „lässig“, das heißt auch die Musik, vor allem aber die Leute hinter den Mikrofonen. Deren Stimmen und Namen wurden mir mit der Zeit vertraut, manche Stimmen mochte ich mehr als andere und eine ganz besonders, weil sich das Jugendhafte, das ich an FM4 liebte, in ihrem Klang verkörperte.So bekannte ich am 8. Januar 2012, also vor fast genau zehn Jahren, einer Freundin in Deutschland per Mail:
„Habe ich Dir eigentlich mal von meinem Radio-Schwarm erzaehlt? Ich hoere, wenn ich Radio hoere, allermeistens fm4, das ist der progressive, jugendliche Ableger des ORF, und da gibt es eine Moderatorin, die ich immer besonders gern hoere: Gerlinde Lang. Nicht so sehr wegen dem, was sie erzaehlt, oder wegen der Musik, die sie auflegt (obwohl mir die auch oft taugt), sondern hauptsaechlich oder eigentlich nur wegen ihrer Stimme und ihrer Art zu sprechen. Ich habe kein Bild von der Frau, mache mir auch keins (und will irgendwie auch nie eines sehen), aber wenn ich das Radio einschalte und sie moderiert (immer nur) zufaellig, hebt sich sofort meine Laune.“
Seit zwei, drei Jahren höre ich nicht mehr so oft FM4 (was hauptsächlich an der Musik liegt, mit der ich immer weniger anfangen kann). Dennoch fiel mir irgendwann auf, dass Gerlinde Langs Stimme länger nicht zu hören war, und ich machte mir Gedanken, was wohl mit ihr los sei: Umzug ins Ausland, berufliche Neuorientierung, Babypause? Als ich dann wieder einmal zufällig in eine von ihr moderierte Sendung stolperte, freute ich mich sehr, dass es sie noch gab, und so war es ein jedes der immer selteneren Male, dass ich ihre Stimme vernahm.
Bis ich Sonntag abend auf einer Autofahrt den „FM4 Zimmerservice“ einschaltete und, nach Bob Dylans „Don’t Think Twice“, den Moderator sagen hörte: „… Gerlinde Lang, die wie gesagt letzte Woche gestorben ist“. Erst dachte ich, ich hätte mich verhört, aber auf der Internetseite des ORF fand ich die Bestätigung, dass die Moderatorin „am 28. Dezember nach langer schwerer Krankheit verstorben ist“.
Es stimmt mich traurig, dass ich beim Aufdrehen des Radios nie mehr unverhofft Gerlinde Langs Stimme hören werde. Doch sie wird mir im Ohr bleiben.
In seinem Frühneuzeitroman „Eine Geschichte des Windes“ erzählt Raoul Schrott „Von dem deutschen Kanonier, der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal“. Unlängst erhielt ich die Anfrage, ob es diesen Kanonier tatsächlich gegeben und die Geschichte des Romans somit einen wahren Kern habe.
Ja, hat sie. Eine andere Frage ist, wie groß dieser Kern ist und wie fest.
In den Heuerlisten von Magellans Molukken-Expedition, die im spanischen „Indienarchiv“ in Sevilla verwahrt werden, finden sich die Namen von drei Männern, die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit Deutsche waren. Sie alle wurden als „Lombarderos“ angeheuert, das heißt als Geschützmeister, die sich auf die Bedienung schwerer Feuerwaffen verstanden (vom Wort „lombarda“, dasim damaligen spanischen Sprachgebrauch einenschweren Geschütztyp bezeichnete; vgl. deutsch „Bombarde“). Einer der drei Männer hieß „Jorge“, also Georg, die anderen trugen beide den Namen „Hans“ bzw. „Hanse“.
Bombarde des 15. Jahrhunderts im Museu Marinha Lisboa Bild: Hispalois, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Offenbar hatten die spanischen Schreiber es nicht so mit deutschen Namen. Mal buchstabierten sie „Hans“, mal „Hanse“, dann wieder „Anes“ (sprich „Hannes“). Doch unsere beiden „Hanse“ lassen sich trotzdem gut auseinanderhalten. Erstens wurden in den Heuerlistenauch die Namen ihrer Herkunftsorte und Eltern verzeichnet, und zweitens dienten sie auf verschiedenen Schiffen, Hans Nummer 1 als „condestable“, das heißt Chef der Artillerie, auf der Nao Concepción und Hans Nummer 2 als „lonbardero“ (sic!) auf der Nao Vitoria. Dieser zweite Hans war „gebürtig aus Agan“, was gemeinhin mit „Aachen“ gleichgesetzt wird.
Als die Nao Vitoria Anfang September 1522 nach fast dreijähriger Odyssee rund um den Globus – der ersten historisch belegten Umrundung der Erde – wieder einen spanischen Hafenanlief, befand sich unter den 21 Überlebenden an Bord auch ein „Anes lonbardero“. Dass dies Hans 2 war, der mutmaßliche Aachener, geht aus der Endabrechnung seiner Heuer hervor, wo aufgeführt ist, dass er während der gesamten Fahrt auf der Vitoria gedient hatte, am Ende im Rang eines „condestable“.
Im übrigen umrundete auch Hans Nummer 1 die Erde, allerdings nicht an Bord der Vitoria. Der in den Dokumenten zumeist „Hanse Vargue“(sprich „Hans Barge“) Genannte geriet auf den Molukken in portugiesische Gefangenschaft. Jahre später, 1526, gelang ihm auf einem portugiesischen Schiff die Rückkehr nach Lissabon, wo er kurz darauf im Kerker starb.
So weit, so gut – oder ungut. Aber wie steht es mit der zweiten und dritten Umrundung der Erde?
Dass der Geschützmeister Hans aus Aachen ein zweites Mal um die Welt gesegelt und damit der erste Mensch sei, dem solches gelang, liest man nicht nur im Roman von Raoul Schrott, sondern auch auf Wikipedia. Zum Beleg wird dort auf das Buch „The First Circumnavigators“ verwiesen, in dem der amerikanische Forscher Harry Kelsey Geschichten über „die ersten Weltumsegler“ zusammengetragen hat. Darin erfährt man, dass besagter Hans auch auf der zweiten spanischen Molukken-Expedition anheuerte, die 1525 unter dem Kommando von García Jofre de Loaísa in See stach. Diese Expedition nahm ein sehr unglückliches Ende.
Nur eines von sechs Schiffen erreichte die Molukken, keines kehrte nach Europa zurück. Lediglich ein paar versprengte Überlebende fanden Mitte der 1530er Jahre, sowie zehn Jahre zuvor die letzten Veteranen der Magellan-Expedition, auf portugiesischen Schiffen den Weg zurück in die Heimat. Einer davon war Andrés de Urdaneta, der später eine gewisse Berühmtheit erlangen sollte, weil er zu den ersten Europäern zählte, denen die Überquerung des Pazifik von Westen nach Osten gelang. Aber das war erst 1565 und ist eine andere Geschichte.
Nachdem Urdaneta 1536, auf dem Weg über Indien, von den Molukken nach Europa zurückgekehrt war (und damit gleichfalls die Erde umrundet hatte), schrieb er einen Bericht über die gescheiterte Loaísa-Expedition. Unter den Teilnehmern erwähnt er einen gewissen „maestre Ans, condestable de los lombarderos“, also sinngemäß „Meister Hans, Chef der Artilleristen“. Über diesen „Meister Hans“ sagte Urdaneta aus, dass er zuvor schon mit Magellan zu den Molukken gefahren sei. Eskann sich dabei nur um Hans aus Agan/Aachen (Hans 2) handeln, weil dessen Namensvetter (Hans 1) ja bis 1526 in portugiesischer Gefangenschaft verblieb und dort starb.
Die Teilnehmer der Loaísa-Expedition von 1525, die es bis zu den Molukken geschafft hatten, lieferten sich dort einen jahrelangen, blutigen Kleinkrieg mit den Portugiesen. In diesem Zusammenhang erfahren wir aus Urdanetas Bericht über Meister Hans, dass er 1529 mit einigen seiner Kameraden zu den Portugiesen übergelaufen sei. Was danach aus ihm wurde, ist nirgends dokumentiert. Nur eine Handvoll von Loaísas Leuten schaffte es am Ende, über Portugiesisch-Indien nach Europa zurückzukehren. Und wiederum nur von einigen sind die Namen überliefert. Ein Hans, „Anes“oder „Ans“ ist nicht darunter.
Keine Tropenidylle: Krieg um Gewürze auf den Molukken, Anfang 17. Jh. Bild: HHEHUM, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Nun ist die Loaísa-Expedition nicht annähernd so gut dokumentiert und erforscht wie ihre Vorgängerin, die Armada des Magellan. Es könnte daher sein, dass noch irgendwo im Indienarchiv ein Aktenbündel herumliegt, aus dem wir mehr über das weitere Schicksal des Geschützmeisters Hans erfahren würden. Doch zumindest in den digitalisierten Beständen, die über das „Portal der spanischen Archive“ zugänglich sind, war nichts dergleichen zu finden.
Worauf stützt sich also die Behauptung, dem Hans aus Agan/Aachen sei ein zweites Mal die Umrundung der Erde geglückt?
Harry Kelsey verweist in seinem Buch „The First Navigators“ auf einen weiteren Expeditionsbericht, der, handgeschrieben und ohne Nennung des Autors, unter der Signatur Add. MS 9944 in der British Library aufbewahrt wird. Von diesem Bericht wurde bisher nur ein Teil gedruckt, aber erfreulicherweise hat die australische Nationalbibliothek ein vollständiges Digitalisat ins Netz gestellt. Der Bericht handelt im wesentlichen von einer weiteren spanischen Ostasien-Expedition, die 1542 unter dem Kommando von Ruy López de Villalobos von Neu-Spanien aus, dem heutigen Mexiko, in See stach, um die Philippinen anzusteuern.
Tatsächlich wird darin (Kapitel 31, f. 55v) abermals ein deutscher Geschützmeister namens Hans erwähnt, nämlich „un lombardero alemán llamado mahestre Anse“ (an anderer Stelle als „artillero mahestre Ans“). Dieser Hans half den Teilnehmern der Villalobos-Expedition mit einem von ihm bedienten Geschütz aus der Patsche, als sie auf den Inseln Sarangani und Balut, an der Südostspitze Mindanaos, von einheimischen Kriegern bedrängt wurden. (Die Spanier waren anscheinend am Verhungern und steuerten daher die Inseln an, um Nahrungsmittel notfalls zu rauben, was sich die Einheimischen, wenig verwunderlich, nicht gefallen ließen.)
Wenn ich richtig sehe, war es diese Erwähnung, die Harry Kelsey veranlasst hat, jenem Hans aus Agan/Aachen, der 1519 bis 1522 auf der Nao Vitoria die Erde umrundete, noch eine zweite komplette Erdumsegelung zuzuschreiben. Denn wenn derselbe Hans sich 1542 unter López de Villalobos auf die Philippinen einschiffte, musste er ja zuvor von den Molukken, wo seine Anwesenheit 1529 dokumentiert ist, nach Mexiko gelangt sein, zum Ausgangspunkt der Villalobos-Expedition. Da die West-Ost-Überquerung des Pazifik bis dato keinem europäischen Schiff gelungen war, konnte er dorthin nur auf dem Weg über Indien und Europa gelangt sein, das heißt indem er ein weiteres Mal die Erde umrundete.
Portugiesische Nao des frühen 16. Jhs. Bild: Lisuarte de Abreu, Public domain, via Wikimedia Commons
Kelsey macht diese Argumentation nirgends explizit, aber sie ist die einzige schlüssige Begründung für seine Behauptung, die ich mir denken kann. Einen anderen Hinweis, zum Beispiel Heuerlisten, wie sie von der Magellan-Expedition überliefert sind, habe ich bisher nirgends entdecken können. Zwingend ist diese Argumentation freilich nicht und die zweite Erdumrundung von Meister Hans in meinen Augen daher nicht als historische „Tatsache“ anzusehen.
Zwar gibt es belastbare Belege dafür, dass ein Hans aus „Agan“ (Aachen?) an Magellans Molukken-Expedition von 1519 teilnahm, auf der Nao Vitoria die Erde umrundete und 1522 nach Spanien zurückkehrte, sich 1525 unter Loaísa abermals zu den Molukken einschiffte und sich bis mindestens 1529 dort aufhielt. Aber dieser Hans muss nicht derselbe Hans sein, der 1543 auf Sarangani sein Geschütz in Stellung brachte.
Jedenfalls lässt sich aus der Namensgleichheit nicht zwingend auf die Identität der Person schließen, selbst wenn beide denselben Beruf des Geschützmeisters ausübten. Dafür war Hans seinerzeit einfach ein zu häufiger Name, wie man ja schon daran sieht, dass auf Magellans Expedition gleich zwei „Hanse“ mit demselben Metier anheuerten – ganz abgesehen von ihren zahlreichen spanischen und italienischen Namensvettern, all den Juans und Giovannis, die ebenfalls mitfuhren. Aus der Geschichte der Frühen Neuzeit und mehr noch des Mittelalters kennt man dieses Phänomen zur genüge: die Häufung gleicher Namen ohne weitere Spezifizierung, die bei der Identifizierung von historischen Individuen Probleme macht und oft zu Fehlschlüssen verleitet.
Aber selbst, wenn der Hans von 1519/29 und jener von 1542 dieselbe Person waren, was ja immerhin möglich ist: Wer sagt, dass dieser Hans, nachdem er 1529 auf den Molukken zu den Portugiesen übergelaufen war, überhaupt nach Europa zurückgekehrt ist? Von anderen Teilnehmern der Expedition, die in portugiesische Gefangenschaft geraten waren, weiß man, dass sie bereitwillig in Asien blieben. Einzelne gründeten dort sogar Familien, andere reisten weiter, zum Beispiel nach China. Rein theoretisch könnte unser Hans daher auch in Südostasien geblieben und, auf welchem Wege auch immer, auf die heutigen Philippinen gelangt sein, wo er sich wieder den Spaniern angeschlossen hätte, die 1543 dort landeten.
Was von weitem wie eine „historische Tatsache“ aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung oft als grobkörniges, unscharfes Gebilde mit wenigen klaren Konturen, aber dafür umso mehr Schattierungen und grauen Flächen, die sich für Projektionen aller Art eignen. Was nach meinem Verständnis den Historiker vom Dichter – und die Historikerin von der Dichterin – unterscheidet, ist die Art und Weise, wie wir mit dieser Sachlage umgehen. Auch wir müssen Leerstellen in der Überlieferung überbrücken, zuweilen unscharfen Dingen klarere Konturen geben, müssen dabei aber stets den Unterschied kenntlich machen zwischen dem, was durch die Quellen, Dokumente, archäologische Funde usw. vorgegeben ist, und den Gedanken, die wir aus diesen Gegebenheiten entwickeln. Ich denke, dieser Unterschied ist wichtig.
Daher mein Fazit: Es ist durchaus möglich, dass der Geschützmeister Hans aus Agan (Aachen?), der 1519 bis 1522 auf der Nao Vitoria die Erde umrundete, dies zwischen 1525 und 1535 ein zweites Mal tat. Erwiesen ist es (bisher) nicht.
Als unser erstes Kind auf die Welt kam, haben wir viel mit unserer Kinderärztin diskutiert, einer sehr erfahrenen Frau, die einerseits alternative Medizin wie etwa Homöopathie praktizierte, andererseits aber vehemente Befürworterin des Impfens war. Wir dagegen machten uns Sorgen, dass unsere Tochter, ein zartes Wesen, an den zahlreichen empfohlenen Impfungen Schaden nehmen könnte. Zudem sahen wir nicht ein, warum das Kind gleich gegen sechs Krankheiten auf einmal geimpft werden musste, darunter gegen Keuchhusten, der zwar unangenehm ist, aber nur sehr selten lebensbedrohlich verläuft, und gegen Hepatitis B, mit dem sich ein gestillter Säugling, der in behüteten europäischen Verhältnissen aufwächst, schwerlich ansteckt.
Die Diskussionen zogen sich über Monate hin. Längst hatten wir den ersten Geburtstag unserer Tochter gefeiert, als wir den Argumenten unserer Ärztin endlich nachgaben und sie erstmals impfen ließen. Seither sind viele Jahre vergangen, und sowohl unsere Tochter als auch ihr jüngerer Bruder haben im Lauf der Jahre eine Reihe von Impfungen erhalten, die sie allesamt gut vertragen haben, unsere Tochter im vergangenen Juni auch die Covid-Impfung mit Comirnaty. Beide sind gesunde Kinder, nur selten krank,und sie entwickeln sich gut. Ob trotz oder wegen der Impfungen, kann ich nicht sagen, nur dass diese ihnen bisher anscheinend nicht geschadet haben – genauso wenig wie mir und meiner Frau.
Umgekehrt halte ich es für einen Irrglauben, dass Impfungen das wichtigste oder gar einzige Mittel sind, um gesund zu bleiben. Dazu braucht es nach meiner Erfahrung auchreichlich Bewegung an der frischen Luft, eine ausgewogene Ernährung, ein gewisses, nicht zu hohes Maß an Hygiene und noch etliches mehr, zum Beispiel eine Familie, Freunde, Musik, gute Bücher und einen Sinn in dem, was man tagtäglich tut. Von daher bedaure ich, dass die politischen Anstrengungen zur Überwindung der Covid-Pandemie fast ausschließlich auf die Ausmerzung des Krankheitserregers durch Impfung hinauslaufen. Auch der moralische und demnächst auch gesetzliche Druck, der auf Menschen ausgeübt wird, die nicht geimpft sind, ist mir zutiefst zuwider. Er geht mir gegen den Strich meiner liberalen Gesinnung.
Was staatlicher Zwang ist, habe ich als junger Mann am eigenen Leib erfahren. Als Kriegsdienstverweigerer musste ich fünfzehn Monate lang in einem Krankenhaus im Schichtbetrieb Pflegedienst leisten, für Kost und Logis und ein Taschengeld. Und das, um ein Gesundheitssystem am Laufen zu halten, das von Ungerechtigkeit und Ausbeutung derer geprägt ist, die darin arbeiten. Diese Erfahrung hat, um es vorsichtig auszudrücken, keine Liebe zum Staat in mir erweckt.Eine solche Liebe verspüre ichbis heute nicht, aber nachdem ich ein wenig in der Welt herumgekommen bin, seheich mittlerweile die Vorteile eines staatlichen Gewaltmonopols. Im Rückblick sehe ich auch den Zivildienst nicht mehr nur negativ, obwohl ich den Zwang zu einem solchen Dienst nach wie vor ablehne.Ein erwachsener Mensch sollte für alles, was er tut oder unterlässt, selbst Verantwortung übernehmen.
So verteidigte der Mennonit Daniel Musser während des amerikanischen Bürgerkrieges 1864 das Recht von Christen, den Kriegsdienst zu verweigern, weil dieser nicht mit Jesu Gebot der Gewaltlosigkeit vereinbar sei. Zugleich begründeteMusser in seiner Schrift „Non-Resistance Asserted“, dass jemand, der Gewalt ablehne und dem Staat nicht mit der Waffe dienen wolle, konsequenterweise auch weder denSchutz des Gesetzes noch die Dienste der Staatsgewalt, etwa der Gerichte oder Polizei, für sich in Anspruch nehmen dürfe. Die Staatsgewalt abzulehnen und gleichzeitig von ihr zu profitieren, ist ein ethischer Widerspruch.
Dasselbe gilt in nach meinem Verständnis auch für die Covid-Impfung und das gesetzliche Gesundheitssystem. Zweifellos gibt es viele Gründe, sich nicht gegen Covid impfen zu lassen. Allerdings würde ich erwarten, dass diejenigen, die sich aus freien Stücken gegen die Impfung entscheiden, eine Patientenverfügung unterschreiben, durch die sie im Fall einer Erkrankung an Covid darauf verzichten, in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen behandelt zu werden. Wären alle Ungeimpften so konsequent, dann würde sich nicht nur die Lage auf den Intensivstationen entspannen, sondern im ganzen Land. Eine Impfpflicht wäre aller Wahrscheinlichkeit nach unnötig, und die unselige Spaltung zwischen Geimpften und Ungeimpften, die seit Wochen den öffentlichen Diskurs vergiftet, würde geheilt.
Liebe Impfskeptiker, bitte seid so frei: Tut, was ihr für richtig haltet, aber übernehmt Verantwortung für eure Entscheidung!
Ganz früher schrieb ich öfter mal Sonette.
Ich saß herum und dachte lange nach,
ich brachte Verse unter Dach und Fach
und suchte Reime, knackige und fette.
Doch das ist lange her. Es ist, als hätte
ich diese Kunst verlernt, als läg’ sie brach.
Schon gräm ich mich deswegen, doch Gemach!
Für Selbstzerfleischung ist hier nicht die Stätte.
Jawohl, Sonette schreiben, das ist Arbeit
und nichts, was man so nebenbei vollbringt.
Das macht man nicht aus Jux in seiner Freizeit,
so wie man in der Badewanne singt.
D’rum haltet meinen Jubel nicht für Tollheit,
wenn ein Sonett mir wieder mal gelingt.
In den Ferien kam aus Deutschland das Patenkind meiner Frau zu Besuch: ein weltoffenes, munteres Mädchen von 15 Jahren mit durch und durch positiver Lebenseinstellung. Egal, was man sie fragte – Hast du gut geschlafen? Magst du noch eine Semmel? Spielst du mit Karten? –, die Antwort lautete stets: „Alles gut!“ Auch als ihre Heimfahrt mit der Bahn sich um einen Tag verzögerte, weil ein gewisser Herr Weselsky seine Lokführer in den Streik gerufen hatte, meinte sie nur: „Alles gut!“
Wenige Tage später saßen wir, nunmehr ohne Patenkind, in der Osnabrücker Hütte am Tisch mit einem Bergwanderer aus Unterfranken. Im Lauf des Abends verließ unser Tischgenosse mehrmals seinen Platz auf der Eckbank, und damit er sich leichter täte, seine für einen Bergwanderer beachtliche Leibesfülle zwischen der Rückenlehne meines Stuhls und der Holzwand der Gaststube hindurch zu bringen, rückte ich jedes Mal mit dem Stuhl etwas nach vorn, was er immer wieder mit der Aussage quittierte: „Alles gut!“
Das musste eine neue Mode sein in Deutschland: zu erklären, dass „alles gut“ sei. In Österreich war uns dergleichen noch nicht aufgefallen. Aber in Österreich ist sowieso immer „alles gut“. Man muss es nicht immerzu bestätigen.
Die letzte Reise dieses Sommers führte uns unlängst nach Ostwestfalen, in die alte Heimat. Wir fuhren mit der Bahn, obwohl die Fahrkarten viermal so viel kosteten wie der Diesel, den unser alter Dacia auf 2000 km Hin- und Rückweg verbrennt. Für den Dacia sprach diesmal auch, dass Herr Weselsky weitere Streiks seiner Lokführer angedroht hatte. Da bucht man nicht ohne Not einen Fernzug. Aber mit einem Dacia, zumal einem alten, die deutsche Autobahn zu befahren, ist kein Spaß. Davon abgesehen denken wir oft mit Sorgen an die Umwelt und das Klima. Und Bahnfahren soll bekanntlich beides schonen.
Mit der Bahn also, trotz allem. Und die Wahl schien sich auszuzahlen. Der zweite Streik ging vorbei, und der Zug fuhr. „Alles gut“, antworteten die beiden jungen Frauen in unserem Waggon, als wir sie baten, mit uns Plätze zu tauschen, damit wir zu viert zusammensitzen könnten. „Alles gut“, sagte der Schaffner bei der Fahrkartenkontrolle, als ich ihm sagte, dass meine Tochter gerade nicht am Platz sei. Und als wir in Hannover trotz reichlicher Verspätung unseren Anschlusszug erreichten, frohlockten wir: „Alles gut!“
„Alles gut“, dachten wir uns auch, als Herr Weselsky seinen nächsten Streik ankündigte. Hatten wir doch in weiser Voraussicht unsere Rückfahrt um einen Tag vorverlegt, sodass wir gerade noch rechtzeitig vor Streikbeginn nach Österreich zurückkehren würden. Doch der ICE, der uns von Bielefeld nach Hannover bringen sollte, kam und kam nicht und fiel dann aufgrund technischer Probleme ganz aus. Der folgende ICE hatte – wegen einer „polizeilichen Ermittlung“ – so viel Verspätung, dass wir den Nachtzug nach Wien, obwohl auch der verspätet war, verpasst hätten und spätabends in Hannover gestrandet wären, kurz bevor Herrn Weselskys Streik die Bahn vollends lahmlegen würde. Also stiegen wir gar nicht erst in den ICE.
Was tun? Unser Dacia stand in Österreich. Zum Glück konnten wir uns von Verwandten ein Auto borgen. Und so verbrachte ich die Nacht statt auf einer Liege im Zug am Steuer eines Mercedes A-Klasse, in dem wir durch scheinbar endlose Baustellen, vorbei an ebenso endlosen LKW-Kolonnen zurück nach Hause fuhren. Dort kamen wir zur selben Zeit an, als wenn wir den Zug genommen hätten.
In Spanien nennen sie es „Operación Paso del Estrecho“: Operation Querung der Meerenge. Alljährlich zu Sommerbeginn machen sich von Frankreich, Belgien und anderen westeuropäischen Ländern mehr als 3.000.000 Menschen auf die Reise, um die Ferien bei ihren Familienin Nordafrika zu verbringen. In nur wenigen Tagen ist der Transport von rund 750.000 Fahrzeugen über die Meerenge von Gibraltar zu bewältigen.
Koordiniert wird die „Operación Paso del Estrecho“ seit 1986 vom spanischen Zivilschutz.Nachdem sie2020 wegen der Covid-Pandemie ausgefallen war, wurde sie in diesem Jahr nach einem diplomatischen Zerwürfnis zwischen Marokko und Spanien abermals abgesagt. Viele Heimaturlauber in den Maghreb sind darum auf Häfen in Portugal, Frankreich oder Italien ausgewichen. Und so wurden auch wir unverhofft Teil dieser Karawane nach Süden, als wir Anfang Juli in Genua an Bord der Majestic gingen, einer Fähre der italienischen Schiffahrtsgesellschaft „Grandi Navi Veloci“.
Die 1993 in Dienst gestellte Majestic soll die Geschwindigkeit einer Fähre mit dem Komfort eines Kreuzfahrtschiffs vereinen. Sie ist 188 Meter lang, fährt im Schnitt 21 Knoten und kann 760 Autos plus 1650 Passagiere laden. Von denen hatten offenbar nur die wenigsten wie wir die Passage Genua-Barcelona gebucht. Arabisch-italienisches Stimmengewirr im Terminal (wo drei angegraute Motorradrocker aus St. Johann im Pongau, die ihre Papiere nicht in Ordnung hatten, dafür sorgten, dass schon beim Check-In die Wogen hochgingen); auf dem Kai lange Schlangen von Autos und Kleintransportern, viele mit dicken, in Plastikplanen eingepackten Bündeln auf den Dächern – all dassagte uns, dass die meisten unserer Mitreisenden wohl nach Tanger weiterfahren würden.
Stundenlang lag die Majestic mit wummernden Dieselmotoren an den Leinen, während Arbeiter in gelben Warnwesten ein Auto nach dem anderen in ihren Bauch winkten. Unterdessen füllten sich die Decks allmählich mit Männern in Tunika, Frauen mit Kopftuch, herumtollenden Kindern. Lautsprecher-Durchsagen auf Italienisch, Englisch, Spanisch, Französisch und Arabisch. In den Gängen wurden Decken und Schlafsäcke ausgerollt, in windgeschützten Ecken der Außengalerien Shisha-Pfeifen angezündet.
Und als das Schiff endlich abgelegt und Kurs auf Barcelona genommen hatte und sich über der provenzalischen Küste die Sonne senkte, Küste und Meer und Schiff in goldenen Glanz tauchend, spielte im großen Salon der Majestic eine Zwei-Mann-Kapelle auf und beschallte die Decks mit lauter marokkanischer Popmusik. Da wurde uns wieder einmal bewusst, dass das Mittelmeer seit alters Europa mit Afrika verbindet.
Kürzlich im Rathaus einer Kleinstadt am Lande, unweit von Wien: Verkehrsverhandlung. Anwesend sind die Spitzen der Lokalpolitik, Vertreter der Stadtverwaltung, der Leiter der Straßenmeisterei. Die Bezirkshauptmannschaft hat Beamte geschickt, das Land Niederösterreich einen Experten für Verkehrssicherheit und die Radlobby einen interessierten Bürger.
Die versammelten Herrschaften erörtern die Problematik einer Zufahrtsstraße, die kurvig und stellenweise so schmal ist, dass Radfahrende den motorisierten Verkehr ausbremsen und Gefahr laufen, mit selbigem in Konflikt zu geraten. Zu ihrem eigenen Wohle hat man daher bislang von allen Maßnahmen Abstand genommen, die Radler*innen womöglich zum Befahren der Straße ermuntern könnten, wie zum Beispiel ein markierter Radfahrstreifen.
Doch die Zeiten ändern sich, auch in einer kleinen Stadt am Lande. Klimawandel, Zuzug aus Wien, von Jahr zu Jahr anschwellender Auto- und Radverkehr sowie die Vorgaben der Landespolitik erzeugen vor Ort einen gewissen Handlungsdruck. Hat sich doch das Land Niederösterreich ein stolzes Ziel gesetzt: den Anteil des Radverkehrs bis 2030 von 7% auf 14% zu verdoppeln. Um es zu erreichen, wurden kühne Strategiepapiere verfasst, auf dem Reißbrett „Rad-Basisnetze“ entworfen, sogar ein „Mobility Lab“ erschaffen. Zig Fördermillionen warten nur auf ihren Abruf.
Der Bürgermeister der Stadt beauftragt also ein Verkehrsplanungsbüro, ein Konzept zu entwickeln, wie man besagte Straße für radelnde Menschen sicherer und attraktiver machen könnte. Die Verkehrsplaner wälzen Studien, erheben Daten, zeichnen Pläne. Monatelang rauchen die Köpfe. Endlich präsentieren die Planer ihren Vorschlag: An beiden Straßenrändern sollen sogenannte Mehrzweckstreifen markiert und rot eingefärbt werden. Die Streifen sind für Fahrräder, dürfen aber, wenn gerade keines dort fährt, auch von Autos benutzt werden, etwa um Gegenverkehr auszuweichen. Außerdem sieht das Konzept vor, die Höchstgeschwindigkeit von 50 auf 30 km/h zu reduzieren.
Riskantes Verkehrsexperiment? (Beispielbild aus einem anderen Teil Europas) Bild: Maurits90, CC0, via Wikimedia Commons
Das Konzept überzeugt den Bürgermeister und den Verkehrsstadtrat. Auch die Amtssachverständigen der Bezirkshauptmannschaft haben keine Bedenken, zumal die vorgeschlagene Lösung seit langem bewährter Praxis in anderen Teilen Europas, ja selbst Österreichs entspricht. Es besteht mithin gute Aussicht, dass das Konzept unbeschadet durch die Verkehrsverhandlung kommt.
Da ergreift der Experte vom Land Niederösterreich das Wort.
Zwischen den Mehrzweckstreifen bleibe eine viel zu schmale Kernfahrbahn übrig, sagt er. Da könne es zu Frontalkollisionen von Autos kommen, deren Lenker*innen womöglich nicht wagen würden, den rot gefärbten Mehrzweckstreifen zu befahren. Sowas sei ein riskantes Experiment mit unsicherem Ausgang, quasi mit den Verkehrsteilnehmern als Versuchskaninchen. Und überhaupt könne man nicht einfach so Tempo 30 verordnen. Laut StVO gelte innerorts eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Wer sie ohne stichhaltige Begründung senke, mache sich „eines Rechtsbruchs schuldig“.
Das versammelte Dutzend an Politikern, Beamten und Bürgern schweigt erschüttert. Allein der Bürgermeister wirft sich in die Bresche: Ob das Konzept nicht trotzdem eine Verbesserung bedeute gegenüber dem Status quo? Die Situation auf dieser Straße sei nicht mehr tragbar. Als Bürgermeister brauche er eine Lösung, und wenn das vorhandene „Portfolio“ keine praktikable Lösung enthalte, müsse man halt das Portfolio erweitern. Ob es denn „erst einen Toten“ brauche, damit sich etwas bewege … ?
Zwischen Bürgermeister und Experten entbrennt eine Diskussion.
Der Experte des Landes erklärt: „Irgendwas tun“ müsse man wohl, das sehe auch er so. Eine Lösung aus dem Hut zaubern könne er aber nicht. Er schlägt daher erst einmal vor, erneut den Verkehr zu messen, um „eine bessere Datengrundlage“ zu haben, und auf dieser Basis dann alternative Ideen zu erarbeiten.
Der Vorschlag des Experten wird angenommen, die Lösung auf die Zukunft vertagt.
Bis 2030 ist ja noch etwas Zeit.
Zum Lokalaugenschein etwa einen Kilometer vom Rathaus entfernt fahren natürlich alle mit dem Auto, eine Kolonne von fünf Fahrzeugen (davon zwei elektrisch). Begründung: Die eng befüllten Terminkalender ließen es nicht zu, das Rad zu nehmen. Der interessierte Bürger fährt trotzdem mit dem Fahrrad hin. Und ist als erster vor Ort.
In Niederösterreich gehen die Uhren halt anders. Zumindest in den Amtsstuben.
Der gute Magellan wollte eigentlich im Herbst 1518 zu seiner Molukken-Fahrt aufbrechen. Tatsächlich in See gestochen ist er ein Jahr später, im September 1519. So war auch ich letzte Woche noch optimistisch, dass am 24. Juni eine seit langem geplante Lesung aus meinem BuchMagellan oder Die erste Umsegelung der Erde und aus Antonio Pigafettas Bericht über Die Erste Reise um die Welt in der VHS Reutlingen stattfinden würde. Doch nun mussten wir die Veranstaltung leider verschieben – im Verschieben sind wir inzwischen Routiniers – und zwar auf den 10. März 2022. Also bitte vormerken für nächstes Frühjahr!
Stefan Zweig in der Diskussion
Am 16. Juni habe ich im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek mit Arnhilt Inguglia-Höfle, Bernhard Fetz und Arturo Larcati über den Autor Stefan Zweig und seine Welt diskutiert. Maria Happel hat Texte von Stefan Zweig vorgelesen. Ich fand es sehr anregend, mit ausgewiesenen Fachleuten über einen Schriftsteller zu sprechen, der bis heute mit seinen Werken – nicht zuletzt dem Roman Magellan – das Bild prägt, das sich viele Menschen von der Geschichte machen. Interessierte können die Diskussion hier oder auch hier nachverfolgen.
Quantitative Rezensionsmethoden?
Eines der wichtigsten deutschsprachigen Rezensionsjournale für die Geschichtswissenschaft, die „Sehepunkte“, hat meine Pigafetta-Neuübersetzung mit einer Besprechung gewürdigt. Das freut mich natürlich außerordentlich. Aber ich musste mich auch wundern, nach welchen Kriterien dort Bücher rezensiert werden. Um zu überprüfen, ob meine Übersetzung tatsächlich die erste vollständige (und originalgetreue) in deutscher Sprache sei, hat der Rezensent sich doch tatsächlich die Mühe gemacht, die Seitenzahlen der älteren Ausgaben von Pigafettas Text mit dem Umfang meiner Neuübersetzung zu vergleichen! Und nachdem er festgestellt hat, dass jene mehr Seiten haben, „erscheint es“ ihm „unwahrscheinlich, dass die beiden letzteren größere Teile der Originaltexte ausgelassen haben“. Na denn! So ganz dürfte der Rezensent seinen quantitativen Methoden allerdings selbst nicht trauen, denn er räumt ein: „Es kann durchaus sein, dass Jostmanns Übersetzung textgetreuer ist.“