Treu gedient

Veröffentlicht am 9. November 2024

Dass angesichts der Wiedervereinigung keine Euphorie angebracht war, haben trotz ihrer Jugend hellsichtige Geister wie ich schon 1990 geahnt. Unsere größte Sorge war damals, dass liebgewonnene Errungenschaften der in der DDR entfalteten Produktivkräfte nun abgewickelt würden: etwa die real-existierende Satirezeitschrift „Junge Welt“, die Briefmarken mit den aufmunternden Parolen und vor allem natürlich die köstliche Koffeinbrause „Club-Cola“.

Denn die meisten DDR-Bürger wollten erklärtermaßen ja keine Freiheit, sondern „Marlboro, Golf GTI und ’nen Videorecorder“. Doch wir haben den Kapitalismus unterschätzt. Er ist in der Lage, alles, aber auch wirklich alles in Waren zu verwandeln, also nicht nur profane Dinge wie Gesundheit, Bildung und Liebe, sondern auch die Erinnerung an das real-existierende Glück hinter sozialistischen Mauern.

So kommt es, dass sich diese Erinnerung heutzutage mit einer breiten Palette von Konsumartikeln pflegen lässt, die Markennamen von ehemaligen Ostprodukten tragen und dank Internet nun auch im Westen käuflich sind: Halloren-Kugeln, Rotkäppchen „Mocca Perle halbtrocken“, Rasierwasser „TÜFF ROT“ und und und. Auch Club-Cola wird weiter produziert, wenn auch „Nicht für jeden. Nur für uns.“

Selbst wenn es sich um einen Nischenmarkt handeln mag: Studiert man das Angebot von spezialisierten Online-Händlern wie „ossiladen.de“, gewinnt man den Eindruck, dass der Sozialismus sich 2024 einer Produktivität und Nachfrage erfreut, die ihm vor 1989 versagt blieben. Wie viele der damals 2,7 Millionen NVA-Reservisten trugen in ihrer Freizeit T-Shirts, auf deren Brust das „Original-Abzeichen“ eines bewaffneten Organs der DDR prangte – mit dem Slogan „TREU GEDIENT“ darunter? Und dann noch eines mit dem Emblem der allseits beliebten „Grenztruppen“?

Solche Paraphernalia bewarb der Online-Händler „Ossiladen“ neulich in einem Newsletter mit der Behauptung, NVA-Soldaten hätten in „der einzigen deutschen Armee“ gedient, „die nie einen Krieg führte“. Lassen wir diesen Seitenhieb auf die Bundeswehr mal beiseite – er spielt womöglich auf ihre Beteiligung an der völkerrechtlich umstrittenen „Operation Allied Force“ 1999 an – und konzentrieren uns auf die folgende Behauptung: „Die sich weigerte, auf das eigene Volk zu sdc“ (sic!).

Was wollte die Marketing-Fachkraft des VEB „Ossiladen“ hier eigentlich geschrieben haben: „schießen“?

Wie oft die Grenztruppen der DDR den Schießbefehl verweigerten, bezeugen die mindestens 140 (und mutmaßlich viel mehr) Todesopfer allein an der Berliner Mauer …