Veröffentlicht am 5. Oktober 2022
Wenn man in Österreich eine „Hetz“ hat, dann bedeutet das, dass es lustig zugeht – zumindest für einige der Beteiligten, denn das Wort kommt von „Hatz“, was eine Art der Jagd ist. Eine Hetz war auch die gestrige Sondersitzung des österreichischen Nationalrats nur für einige der Teilnehmenden. Veranlasst hatte die Sitzung mit einer Dringlichen Anfrage der Klubobmann der Freiheitlichen Partei, Herbert Kickl.
Kickl, der sich als Cheftexter seiner Partei um die Pflege des Kalauers auf Wahlplakaten („Daham statt Islam“) und von 2017 bis 2019 als angeblich „Bester Innenminister aller Zeiten“ erfolglos um die Wiederaufstellung einer Polizei-Pferdestaffel verdient gemacht hat, nutzte die Nationalratssitzung zu einem Parforceritt auf seinem liebsten Steckenpferd: dem Schwadronieren vom „Asylanten-Grenzsturm“, der über Österreich hereinbreche.
Tatsächlich ist die Zahl der Menschen, die in Österreich einen Antrag auf Asyl stellen, in den vergangenen Wochen stark gestiegen. Ende August summierte sie sich auf 56.149 seit Anfang des Jahres. Das entspricht fast einer Verdreifachung gegenüber 2021 – mithin ein perfekter Sturm kurz vor der Wahl des österreichischen Bundespräsidenten am Sonntag, bei der dem Kandidaten der FPÖ, einem Herrn Dr. Rosenkranz, nur geringe Chancen prognostiziert werden. Kein Wunder also, dass Kickl die Sturmglocken läutet.
Aber man sollte sich nicht täuschen. Seit Jahr und Tag lebt die FPÖ prächtig davon, sich als Anwalt der Kurzsichtigen, Kleingeistigen und Engherzigen aufzuspielen. Aus der Vielzahl globaler Probleme greift sie eines heraus, bläst es ins Gigantische auf und posaunt herum, Migration sei der fünfte Reiter der Apokalypse. Dabei lasse sie sich ganz einfach „verhindern“: mit Stacheldraht und Blei.
Mit dem alten Lied stoßen Kickl und sein blauer Verein auch heute nicht auf taube Ohren. Zwar wird die steigende Zahl der Asylanträge das fehlende Charisma ihres Kandidaten für das Präsidentenamt nicht aufwiegen. Würde jedoch stattdessen in Österreich am Sonntag der Nationalrat gewählt, erhielte die FPÖ voraussichtlich mehr als zwanzig Prozent der Stimmen.
Um Bedrohungsfantasien, Gewalt und ihre Folgen geht es auch im neuen Buch meines Kollegen, des Historikers Hans Woller: „Jagdszenen aus Niederthann“. Hans erzählt darin eine Geschichte, die sich vor fast genau fünfzig Jahren in Oberbayern ereignet hat, in einem kleinen Weiler der Holledau, dem großen Hopfenanbaugebiet nördlich von München. Da feuerte ein Nebenerwerbslandwirt aus einem Kleinkalibergewehr vier Schüsse auf eine Gruppe von Mädchen ab. Die fünf nach damaligem Recht minderjährigen Mädchen hatten kurz zuvor unerlaubt – aber unbewaffnet – sein Haus betreten und waren bereits wieder am Wegrennen, als der Mann von hinten auf sie abdrückte.
Zwei Kugeln trafen Anka Denisova, 18 Jahre alt und im sechsten Monat schwanger. Die Mutter von zwei kleinen Kindern verblutete an Ort und Stelle. Milena Ivanov überlebte, ebenfalls von zwei Schüssen getroffen, nach einer Notoperation. Sie und die anderen drei Mädchen waren nach Aussage ihrer Verwandten auf der Suche nach Menschen gewesen, die ihnen Lebensmittel verkauften. Alle fünf waren Romnja.
Die zum Tatort gerufenen Polizeibeamten nahmen die Mädchen wegen Verdachts auf Einbruch und Diebstahl fest, verhörten den Todesschützen als Zeugen und rieten ihm, sich zu verstecken, waren sie doch überzeugt, dass ihm nun „Blutrache“ drohte. Seinen Hof stellten sie vorsorglich unter Polizeischutz. Im Dorf ging fortan die Angst um vor der „Zigeuner-Rache“, und die Münchner Abendzeitung titelte „Zigeuner erklären Bauern den Krieg“. In den Augen seiner Nachbarn hatte der Schütze bloß recht getan, indem er sein Eigentum mit der Waffe gegen „diese Weiber“ verteidigte. Der Pfarrer auf der Kanzel sprach den Schützen von jeder Schuld frei, und der Bürgermeister wusste seine Partei hinter sich, wenn er schimpfte, es sei eine „Sauerei“, „dass ein anständiger Gemeindebürger wegziehen muss wegen dem Gesindel“.
So leicht kam der Täter am Ende nicht davon, aber nicht weil die Verwandten der Opfer ihm etwa den „Krieg“ erklärt oder gar „Blutrache“ geschworen hätten, sondern weil ein Münchner Staatsanwalt die bayerische Polizei daran erinnerte, dass das Gesetz auch das Leben von Roma schützt, und weil ein prominenter Rechtsanwalt, Rolf Bossi, sich des Falles öffentlichkeitswirksam annahm.
Die gerichtliche und mediale Auseinandersetzung um die tödlichen Schüsse in Niederthann sollte Jahre dauern und dazu beitragen, das Bild, das viele Deutsche von den Roma, aber auch diese selbst von sich hatten, zu verändern. Seit Jahrhunderten ausgegrenzt, im Dritten Reich zu Hunderttausenden ermordet, nach dem Krieg weiter diskriminiert, begannen deutsche Sinti und Roma, aufgeweckt von den Schüssen in Niederthann, um ihre Bürgerrechte zu kämpfen.
Diese Geschichte, vor fünfzig Jahren geschehen und dennoch erschreckend aktuell, erzählt Hans Woller in seinem Buch eindringlich und mit großer Empathie.