Veröffentlicht am 1. Oktober 2024
Als ich vor fast 20 Jahren in dieses Land zog, tat ich es unter dem Eindruck, dass in Österreich recht gescheite Leute lebten. Leute, die ihre Traditionen pflegten und zugleich die Chancen ergriffen, die ihnen die europäische Integration und Erweiterung nach Osten boten – also quasi „Laptop und Lederhose“, wie es damals in Bayern hieß, aber ohne das dümmlich Auftrumpfende, das die Bayern allseits so beliebt macht.
Nun, es ist wohl kaum nötig zu sagen, dass sich jener Eindruck als Täuschung erwiesen hat, und nicht erst am vergangenen Sonntag.
Wobei man zur Nationalratswahl 2024 anmerken muss, dass den ca. 6,35 Millionen Wahlberechtigten ab 16 Jahren ca. 1,5 Millionen Menschen gegenüberstehen, die nicht wählen durften, obwohl sie in diesem Land leben und älter als 16 sind. Der Grund: Sie besitzen – wie auch ich – nicht die österreichische Staatsbürgerschaft.
Österreich hat eines der restriktivsten Staatsbürgerrechte der Welt. Nur Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sind da noch strenger. Und die Zahl der hier Ansässigen ohne Wahlrecht wächst, weil die österreichische Gesellschaft wächst, aber eben nur dank Zuwanderung.
Dass das für die Repräsentativität von Wahlergebnissen Probleme aufwirft, liegt auf der Hand: Es relativiert erstens den Machtanspruch einer Partei, die zwar 29 % der Stimmen an Land gezogen hat. Rechnet man aber die freiwilligen und unfreiwilligen Nichtwähler heraus, haben „nur“ 18 % der hier lebenden Menschen im wahlfähigen Alter sie gewählt, oder anders gesagt: 82 % haben die Partei nicht gewählt.
Von einer echten „Volksherrschaft“ kann da kaum die Rede sein.
Geschlossene Gesellschaft
Zweitens verzerrt ein solches Wahlrecht den politischen Wettbewerb, indem es die Blut- und Boden-Parteien begünstigt. Denn die versprechen ja den eh schon Privilegierten noch mehr Vorrechte – oder vielmehr. Sie versprechen ihnen, jene anderen weiter zu entrechten, die schon jetzt weniger Rechte haben als die Einheimischen: die „Fremden“. Etwa durch Abschaffung des Asylrechts oder des Rechts auf Sozialhilfe für Nicht-Österreicher – aber womöglich ist ja auch hier Saudi Arabien das angestrebte Modell.
Jedenfalls spiegelt das Staatsbürgerrecht die Exklusivität der österreichischen Gesellschaft wider und fördert zugleich die völkische Zurichtung der Demokratie.
Das pathologische Ausmaß der hierzulande kultivierten Abneigung gegen „Fremde“ ist mir 2016 bewusst geworden, nach der sogenannten „Flüchtlingskrise“. Als Mitorganisator eines Hilfprojekts für Familien, die aus Syrien und dem Irak geflohen waren, wurde ich zum Adressat von Zuschriften angesehener Mitbürger, die ihrer „Trauer“ über die „Zerstörung“ ihrer „schönen Heimat“ durch „dieses Gesindel“ (d.h. die geflüchteten Familien) zum Ausdruck brachten. Und mir vorwarfen, an dieser Zerstörung mitzuwirken.
Um eins klarzustellen: Als Deutscher, der ökonomisch relativ unabhängig und zudem mit einer Österreicherin verheiratet ist, habe ich hier wenig auszustehen. Uns Deutschen gegenüber pflegen Österreicher ein ganz eigenes Ressentiment, das sich zwar gern trotzig gibt, das dahinter stehende Gefühl der Unterlegenheit lässt sich aber kaum verhehlen. Das macht es natürlich einfacher, sich dagegen zu wehren beziehungsweise Angriffe von vornherein zu vermeiden, indem man das genannte Gefühl beim Gegenüber schont. In letzter Zeit haben auch die Performance der Deutschen Bahn und Fußballnational-Mannschaft der Männer viel dazu beigetragen, das Verhältnis zu verbessern.
Neulich am Neusiedler See
Trotzdem erlebt man immer wieder so Sachen wie vor einiger Zeit am Neusiedler See. Eine Freundin – auch eine Deutsche, die schon lange hier lebt: wir Migrant:innen bilden nunmal gern unsere Parallelgesellschaften – hält sich dort ein kleines Boot, auf dem wir zusammen einen freien Tag genießen wollten. Da der See damals sehr wenig Wasser hatte, verbrachten wir den Tag großteils am Steg, wo die Boote eng an eng benachbart liegen. Neben dem unserer Freundin lag eine größere Yacht, deren Besitzer ebenfalls da war – Altergruppe: junger Pensionist.
Wie es so geht: Man grüßt über die Reling, wechselt ein paar belanglose Worte über das Wetter, den See usw., und dann sagt einem der Nachbar geradewegs ins Gesicht: „Noch mehr Deutsche! Es gibt hier eh schon viel zu viele von euch.“ Dabei stand neben ihm, ohne etwas zu sagen, seine sichtlich jüngere Partnerin. Dass auch sie aus Deutschland stammte, erfuhren wir dann von unserer Freundin.
Später versuchte ich den Mann zu beruhigen. Auch wenn man es an ihrer Sprache nicht höre: Meine Frau sei eigentlich Österreicherin und infolgedessen seien auch unsere Kinder Österreicher. Das hörten andere Nachbarn, die inzwischen dazugekommen waren, Besitzer eines Hauses neben dem Hafen und erkennbar gut situierte Leute. Sie mischten sich ein: Wenigstens seien unsere Kinder blond. „Das können wir hier in Österreich gut gebrauchen.“