Veröffentlicht am 17. April 2020
Am 28. April 2020 begeht Österreich ein denkwürdiges Jubiläum. An diesem Tag ist es genau 25 Jahre her, dass Innenminister Caspar Einem in Brüssel das Schengener Übereinkommen unterzeichnete. Bis zu dessen Umsetzung sollte es danach noch etwas dauern. Erst seit Ende 1997 konnten Reisende die Grenze ohne – wie es in der Polizeisprache heißt – „verdachtsunabhängige Kontrolle“ passieren.
So war es auch, als meine Frau, eine gebürtige Österreicherin, und ich, ein deutscher Staatsbürger, im Frühjahr 2005 von Deutschland nach Österreich übersiedelten, um uns im Weinviertel niederzulassen. Niemand wollte an der Grenze unsere Pässe sehen und niemand interessierte sich für den Inhalt des Kleintransporters, mit dem wir unseren Hausrat in die neue, für meine Frau alte, Heimat überführten.
In den folgenden Jahren haben wir die Grenze ungezählte Male gequert: um Verwandte und Freunde zu besuchen, zu Familienfeiern, zu beruflichen Zwecken, oft allein, manchmal zu zweit, meistens mit den Kindern. Den Kindern erzählten wir beim Grenzübertritt gern, wie es früher war, als man noch kontrolliert wurde und mit Wartenzeiten rechnen musste. Dabei redeten wir wie alte Leute, wenn sie von längst vergangenen Dingen erzählen, die sich die Jüngeren nicht richtig vorstellen können. Von Dingen, die zwar von leiser Nostalgie umflort sein mochten, die aber ehrlicherweise niemand vermisste. Für eine österreichisch-deutsche Familie wie uns war „Schengen“ einfach nur ein Segen.
Wie segensreich die Schengener Bräuche gewesen waren, erfuhren wir, als wir Anfang 2016 wieder einmal nach Deutschland reisten. Gegen Mitternacht hämmerte es gegen die Tür unseres Liegewagenabteils und eine Männerstimme riss uns aus den Träumen: „Aufmachen! Bundespolizei. Passkontrolle!“ Auf meine verwunderte Frage, was wir uns denn hätten zuschulden kommen lassen, dass er unseren und unserer Kinder Schlaf störe, erklärte mir der Beamte, sie würden im Zug nach illegal einreisenden Personen suchen. Wohl um die Sinnhaftigkeit seines Tuns zu betonen, fügte er hinzu, dass sie in der vorherigen Nacht sogar eine solche Person aufgegriffen hätten.
Seither wurden Grenzkontrollen für uns wieder zur Normalität. Nicht nur erwarteten wir bei jedem Grenzübertritt, kontrolliert zu werden. Auch der Verkehrsfunk erinnerte uns regelmäßig an die veränderten Verhältnisse, wenn er die Wartezeiten an den Grenzübergängen durchgab. Aber auch diese andere Normalität, die im Herbst 2015 die Normen des Schengener Abkommens abgelöst hat, ist uns mittlerweile abhanden gekommen. Am 16. März 2020 wurde die Grenze zwischen Österreich und Deutschland vollends geschlossen, und sie wird es auch über den 28. April hinaus sein – diesmal allerdings nicht, um illegal einreisende Menschen, sondern um Coronaviren am Grenzübertritt zu hindern. Was aber auf dasselbe hinausläuft, weil nun alle Menschen im Verdacht stehen, Virenschmuggler zu sein.
Für meine österreichisch-deutsche Familie ist die Grenzschließung eine Zäsur im Wortsinn, schneidet sie uns doch in einem bislang nie erlebten Maß von unseren Verwandten und anderen lieben Menschen ab. Nicht de jure, weil alle deutschen Staatsbürger weiterhin das Recht haben, nach Deutschland einzureisen, aber de facto – und vor allem gefühlt.
Angesichts der uns verordneten Entkörperlichung fast aller zwischenmenschlichen Beziehungen mag das nebensächlich sein. Dennoch erscheint es mir bemerkenswert, dass Österreich unter solchen Vorzeichen das 25jährige Jubiläum seines Beitritts zum Schengener Übereinkommen begeht – und nicht etwa feiert, denn zu feiern wäre allenfalls die Öffnung der Grenze nach dem Abklingen der Pandemie. So denn die Grenze wieder geöffnet wird …
Am 15. April hat das deutsche Bundesinnenministerium mitgeteilt, dass der Minister „aus migrations- und sicherheitspolitischen Gründen … die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Landgrenze mit Wirkung zum 12. Mai 2020 für einen sechsmonatigen Zeitraum auf Grundlage der Art. 25 bis 27 des Schengener Grenzkodex neu angeordnet hat“.
„Schengen“ bleibt also – bis auf ministeriellen Widerruf – Geschichte. Damit aber nicht in Vergessenheit gerät, wie es zwischenzeitlich an den Grenzen aussah, stelle ich aus Anlass des „Jubiläums“ einige der Bilder online, die der Fotograf Bernd Ctortecka im Jahr 2005 an der österreichisch-deutschen Grenze aufgenommen hat. Die Bilder sollten seinerzeit eine Bestandsaufnahme liefern, im Jahr Zehn nach dem Schengen-Beitritt Österreichs. Sie waren gedacht als Einladung zur Reflexion, was das scheinbare Verschwinden der Staatsgrenzen ästhetisch und symbolisch bedeutete. Heute scheinen sie uns an eine Utopie zu erinnern, die vielleicht niemals Wirklichkeit geworden ist.
Weitere Info zum Schengen-Projekt (2005).