aktualisiert am 31. August 2020
Kiwis aus Neuseeland, Ananas aus Costa Rica, Wein aus Chile – man muss nur in den Supermarkt gehen, um zu begreifen, dass wir in einer globalisierten Welt leben. Doch wer meint, Globalisierung sei ein modernes Phänomen, irrt. Fritz Heichelheim, ein aus Nazideutschland vertriebener Althistoriker, erkannte schon bei den antiken Sumerern und Ägyptern vor 5000 Jahren Fernhandelsnetze, die sich von Nordafrika bis ins Innere Asiens erstreckten. Nicht ganz so weit in die Vergangenheit zurück geht Janet Abu-Lughods These vom spätmittelalterlichen „Weltsystem“. Während des Mongolenreiches, also zwischen 1250 und 1350 etwa, habe sich in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Europas ein komplexes Netzwerk kommerziellen und kulturellen Austauschs etabliert. Da wurde Bernstein vom Baltikum bis nach China gehandelt, Elfenbein gelangte von Südafrika auf dem Seeweg nach Indien und weiter nach Ostasien, gefärbte Baumwollstoffe wurden von Indien nach Java exportiert, Porzellan und Seide von China in den Mittleren Osten, Gewürze von den Molukken bis nach Paris und London …
Dass Globalisierung gar nichts Neues sei, ist auch die Botschaft von Valerie Hansens Buch „The Year 1000. When Explorers Connected the World – and Globalization began„. Die in Yale lehrende Historikerin und China-Expertin hat zahlreiche Indizien dafür versammelt, dass Handel und kulturelle Kontakte bereits um die erste Jahrtausendwende sprunghaft zunahmen – und zwar weltweit.
Ihre literarische Tour um den Globus startet Hansen mit den Atlantikfahrten der Wikinger, die bekanntlich um das Jahr 1000 Grönland und das heutige Kanada ansteuerten. Folgt man der Autorin, dann sind die blonden Männer in ihren Langbooten noch ein gutes Stück weiter gekommen, nämlich bis zur mexikanischen Halbinsel Yucatan, wo Hansen sie und ihre Schiffe auf Wandbildern der Mayas identifiziert haben will.
Weil es die Wikinger nicht nur nach Westen trieb, skizziert Hansen anschließend ihre Umtriebe in Osteuropa. Dort reüssierten Skandinavier seit dem 8. Jahrhundert als Sklaven- und Pelzhändler und wirkten wohl auch an der Gründung des ältesten russischen Reiches mit, der Kiewer Rus. Der Sklavenhandel leitet zum nächsten Kapitel ihres Buches über, das sich den Beziehungen zwischen Afrika und der islamischen Welt widmet. Vor allem Bagdad, damals eine Millionenstadt, habe einen solchen Bedarf an Sklaven entwickelt, dass die Zahl der jährlich durch die Sahara verschleppten Menschen in die Tausende ging. Der Menschenhandel zwischen Afrika und dem Mittleren Osten, schätzt Hansen, habe über die Jahrhunderte fast so viele Opfer gefordert wie der transatlantische der Frühen Neuzeit, nämlich an die 12 Millionen.
Gänzlich anders geartet, aber laut Hansen nicht minder massiv waren Migrationsbewegungen, die sich um die erste Jahrtausendwende in Zentralasien abspielten. Der breite Steppengürtel zwischen Ungarn und Nordchina bot den berittenen Kriegern nomadischer Stämme, wie den Seldschuken, ideale Bedingungen, um die angrenzenden Reiche auszurauben oder zu unterwerfen. Nicht selten nahmen die Eroberer nicht nur die irdischen Reichtümer ihrer Opfer an sich, sondern auch deren religiöse Überzeugungen. So sorgten sie für die Ausbreitung des Islam und des Buddhismus in Zentralasien – auch dies eine Form der Globalisierung.
Was in Innerasien Pferde, leisteten auf dem Indischen Ozean Dschunke und Dhau: Die beiden Schiffstypen ermöglichten den Kontakt zwischen Kulturen und Völkern, die tausende Seemeilen entfernt voneinander lebten. Auf ihnen gelangten sowohl gefragte Güter wie Edelmetalle, Seide, Porzellan und Gewürze übers Meer als auch Mönche und heilige Texte. Am dichtesten gewoben war das Handelsnetz ganz im Osten Asiens, rund um die Südchinesische See, weshalb Hansen diese Region mit dem Etikett „The Most Globalized Place on Earth“ versieht. Während in den größten Städten Europas jener Zeit gerade mal ein paar tausend Menschen hausten, reichte die Einwohnerzahl der beiden chinesischen Häfen Guangzhou und Quanzhou bereits an die Million. Hier lebten Chinesen Tür an Tür mit Arabern und Indern, und auf den Märkten war alles käuflich von afrikanischem Elfenbein-Schmuck über in Malaysia gewobene Rattan-Matten bis zu aromatischem Sandelholz aus Timor (laut Hansen allerdings kaum Sklaven).
Für ihre Tour d’horizon durch die globalisierte Welt des Jahres 1000 ist Valerie Hansen zu danken. Sie lesend nachzuvollziehen kann unserem auf die Neuzeit fixierten Geschichtsbild und unserem Hang zum Eurozentrismus entgegenwirken. Auch wenn das in manchen Schulbüchern noch immer so steht: Die Globalisierung war keine Erfindung genialer oder – je nach Sichtweise – diabolischer Renaissance-Menschen aus Europa. Sondern ein Prozess, der lange vor 1500 in Gang war und – wie heute auch – von den verschiedensten Akteuren auf der ganzen Welt vorangetrieben wurde. Zweifellos konnten sich die europäischen Imperialisten der Frühen Neuzeit Netzwerke und Kommunikationswege zunutze machen, die sie fast überall auf der Welt vorfanden, von Tidore bis Tenochtitlán.
Dass und warum „die“ Globalisierung aber ausgerechnet um das Jahr 1000 herum begonnen haben soll, kann Hansen in meinen Augen nicht schlüssig begründen. Die meisten Handelsnetze, die sie in ihrem Buch beschreibt, waren um die erste Jahrtausendwende längst geknüpft, einige wie die beiden „Seidenstraßen“, die innerasiatische und die maritime, bestanden schon seit vielen Jahrhunderten. Auch hatten auf der Erde bereits weiträumige Expansionsprozesse stattgefunden, die bis heute nachwirken: von der Verbreitung des Buddhismus in Asien über den Indienzug Alexanders des Großen bis zur explosionsartigen Ausdehnung des Dar al-Islam ab etwa 630 – wohl einer der folgenreichsten Globalisierungsschübe überhaupt. 711 eroberten muslimische Krieger die iberische Halbinsel und 751 besiegten sie in der Schlacht am Fluss Talas, wo heute Kasachstan an Kirgistan grenzt, eine Armee der Tang-Dynastie. Ein in diesem Frühjahr erschienenes Handbuch beschreibt den Grad globaler Vernetzung, den Gesellschaften in Afrika, Asien und Europa bereits im Frühmittelalter (ca. 600-900 n. Chr.) erreicht hatten, also deutlich vor dem Jahr 1000.
Wenig überzeugend finde ich auch, die Fahrten des Wikingers Leif Eriksons nach Neufundland und Labrador (von der höchst spekulativen Präsenz der Nordmänner auf Yucatan ganz zu schweigen) sowie die Besiedlung des Pazifik durch die Polynesier ins Feld zu führen, um die These zu untermauern, die Globalisierung habe um das Jahr 1000 ihren Anfang genommen. Die Pazifik-Besiedlung erfolgte in mehreren Schüben; der letzte begann nach heutigem Wissensstand um 700 n. Chr. und endete gut 500 Jahre später mit der Besiedlung von Aotearoa (Neuseeland). Aber inwiefern stehen die Fahrten der Polynesier mit Migrationsbewegungen in Zusammenhang, die sich im selben Zeitraum anderswo auf dem Globus ereigneten? Da wir nicht wissen, warum sie in See stachen, lässt sich diese Frage allenfalls hypothetisch beantworten.
Jedenfalls waren vor der Neuzeit die meisten pazifischen Inseln einschließlich Papuas und Australiens so wenig in das Handelsnetz der „Alten Welt“ eingebunden wie der amerikanische Kontinent. Es macht eben einen Unterschied, ob eine Handvoll wagemutiger Pioniere den Weg zu fernen Gestaden fand oder ob sie auch den Rückweg meisterten, sodass dauerhafte Kontakte zustandekamen. Die Kanarischen Inseln wurden lange vor Christus von den Guanche besiedelt, doch in den tausend Jahren vor ihrer Eroberung durch Europäer im 14. Jahrhundert unterhielten jene keine Beziehungen zur Außenwelt. Desgleichen lebten die Rapa Nui der Osterinsel, die Chamorros auf Guam und die Maori auf Aotearoa bis zur Ankunft europäischer Seefahrer isoliert, und aus den Fahrten der Wikinger entstanden, anders als aus denen des Kolumbus, keine bis heute andauernden Verbindungen zwischen den Kontinenten. Die Skandinavier gaben ihre Siedlungen auf Grönland um 1400 wieder auf. Es ist daher irreführend, wenn Hansen schreibt, die von Vasco da Gama und Magellan „entdeckten“ Seerouten seien bereits tausend Jahre zuvor befahren worden. Aus Sicht der Globalisierung ist entscheidend, wann auf diesen Routen ein kontinuierlicher, langfristiger Austausch von Menschen, Waren und Ideen in Gang kam. Nach diesem Kriterium sind die Etablierung der portugiesischen Carreira da India nach 1498 und die Einrichtung der Manila-Galeone rund hundert Jahre später, die Amerika mit den Philippinen verband, nunmal Marksteine globaler Geschichte.
Den Begriff der „Globalisierung“ diskutiert Valerie Hansen in ihrem Buch nicht, sondern umschreibt ihn allenfalls vage: „This is, when trade routes took shape all around the world that allowed goods, technologies, religions, and people to leave home and go somewhere new.“ Nach dieser Definition hätte die Globalisierung nicht vor tausend, sondern bereits vor 100.000 Jahren begonnen, als die ersten Exemplare der Gattung Homo sapiens ihre afrikanische Heimat verließen, neue Lebensräume erschlossen und bald auch begannen, über längere Distanzen Dinge zu tauschen, wertvolle Steine zum Beispiel, was spätestens für das Jungpaläolthikum belegt ist. Die Unschärfe ihres Globalisierungsbegriffs schadet nach meinem Urteil Hansens Argumentation. Indem sie nicht nach der Wechselseitigkeit und Nachhaltigkeit der von ihr beschriebenen Kontakte fragt, übetreibt Hansen die schon oft beschworene historische Bedeutung der „mutation d’an mil“ (Dominique Barthélemy 1997) für die globale Geschichte. China mag um das Jahr 1000 der „Most Globalizend Place on Earth“ gewesen sein. Aber es war sicherlich nicht der Startplatz, von dem „die“ Globalisierung ihren Ausgang nahm. Von der Hochblüte der Song-Dynastie führte kein ununterbrochener historischer Pfad zu den Expansionsprozessen des 15. und 16. Jahrhunderts. An diesen nahm China, jedenfalls bis 1567, nicht aktiv teil.
Nun müssen in einer globalisierten Welt auch Bücher darum wetteifern, wahrgenommen und gekauft zu werden. Eine zugespitzte (wenn auch keineswegs ganz neue) These mag dabei helfen. Den nicht ganz uninformierten Leser freut sowas weniger. Aber trotz seiner begrifflichen Schwächen sei das Buch zur Lektüre empfohlen, zum einen wegen der Fülle des darin ausgebreiteten Materials, zum zweiten wegen der Zusammenhänge, die es herstellt, zum dritten weil es als Antidot gegen allzu bornierte Geschichtsbilder wirken kann (s.o.):
Update: Eine deutsche Übersetzung von Hansens Buch ist für September 2020 angekündigt.