Minimalinvasiv

Veröffentlicht am 14. März 2023

Es ist nicht die Art Literatur, die ich normalerweise lese: ausgedachte Geschichten, zudem noch kurze. Aber ein alter Freund hat sie geschrieben, und darum habe ich sie zur Hand genommen. Dass ich mich hier darüber äußere, ist allerdings kein Freundschaftsdienst. Das möchte ich gern vorausschicken. Sondern weil mir die Geschichten gefallen, die Florian Schneider erzählt.

Bild: periplaneta Verlag und Medien

Sie handeln von scheinbar alltäglichen Begebenheiten – nichts Weltbewegendem, könnte man sagen, dabei erzählen sie doch von dem, was die kleine Welt bewegt, in der eine jede und ein jeder von uns lebt: von Erinnerungen, Träumen, vor allem aber von den Beziehungen zu denen, die uns am nächsten sind, seien es Partner, Kinder oder auch Tiere.

Da sitzt ein Mann frühmorgens in einem Hotelzimmer und sieht sich auf einem Tablet Bilder an, Bilder von einem aggressiven Hirntumor. Sein Blick, das erfährt man bald, ist der des Fachmanns. Nachdem er genug gesehen hat, tippt er in das Bildschirmgerät den Satz: „Lasst es den Chirurgen machen.“ Eine lapidare Anweisung in einer Sache auf Leben und Tod, gerichtet an die Mitarbeiter in seiner Klinik, denen er offenbar nicht zutraut, was er selber in diesem Fall tun würde, wenn er vor Ort wäre: den Tumor „minimalinvasiv“ entfernen.

Denn der Mann am Tablet, so erfahren wir, ist ein Pionier minimalinvasiver Schädel-OPs, eine Koryphäe seines Faches. Aber er ist nicht vor Ort, sondern in einem Hotelzimmer auf Mauritius, mit seiner neuen, mutmaßlich jüngeren Frau, für die er mit Mitte fünfzig seine Familie verlassen und die sich die Insel im Indischen Ozean zum Ziel ihrer Hochzeitsreise erwählt hat, weil diese „so weit weg“ ist, „dass du es niemals in die Klinik schaffst“.

In einer anderen Geschichte blickt eine Frau aus dem Fenster ihres Schlafzimmer auf die Felder, die einmal ihrer Familie gehört haben. Es ist September, es ist extrem heiß, und der Mais auf den Feldern, nichts als Mais, bis zum Horizont, wird geerntet: „Sie sind mit zwei Maschinen gekommen und sie arbeiten gegenläufig, Reihe um Reihe. Sie reißen die Stängel aus der Erde, als wären es Grasbüschel und oben aus den Rohren schießt der Häcksel in die Anhänger wie der Strahl von Erbrochenem.“

Später, am Abend, wird die Frau gierig die Flasche Wein aus dem Kühlschrank an die Lippen setzen und, weil sie nicht schlafen kann, noch auf einen Absacker zu Don Alfonso in die Dorfkneipe gehen. Dort war sie früher oft mit ihrem Mann, der sich zu Tode gesoffen hat, und dort wird sie heute Abend auf die Fahrer der Mähdrescher treffen, Saisonarbeiter aus Osteuropa, die hier fremd sind wie sie, die Eingeborene …

Auf jeweils drei, vier, fünf Seiten gelingt es Florian Schneider mit seinen literarischen Momentaufnahmen, das Leben eines Menschen oder eines Paares einzufangen in seinem Beziehungsreichtum und seiner Brüchigkeit. Dass dabei vieles nur angedeutet wird und noch mehr ungesagt bleibt, der Fantasie des Lesers überlassen, ist alles andere als ein Manko. Die losen Enden machen – zusammen mit der akkuraten, niemals auftrumpfenden Sprache für mich den Reiz der Lektüre aus.

Es gibt auch ein paar längere Geschichten, wie die von den beiden jungen Leuten, Kollegin und Kollege in einer Berliner Werbe-Agentur, die eine romantische Beziehung eingehen. Aber mir gefallen die kurzen, die irgendwo einsetzen und ihre Story nicht bis zum Ende auserzählen, am besten. Ihnen allen wohnt eine Spannung inne, die mich von den ersten Zeilen an, wofern nicht um das Leben, so doch um die Seele der Protagonisten hat bangen lassen.

Florian Schneider, Polarstation. Erzählungen, Berlin: periplaneta 2022

Website von Florian Schneider

Sie wollen wieder schießen (dürfen)

Veröffentlicht am 5. Oktober 2022

Wenn man in Österreich eine „Hetz“ hat, dann bedeutet das, dass es lustig zugeht – zumindest für einige der Beteiligten, denn das Wort kommt von „Hatz“, was eine Art der Jagd ist. Eine Hetz war auch die gestrige Sondersitzung des österreichischen Nationalrats nur für einige der Teilnehmenden. Veranlasst hatte die Sitzung mit einer Dringlichen Anfrage der Klubobmann der Freiheitlichen Partei, Herbert Kickl.

Kickl, der sich als Cheftexter seiner Partei um die Pflege des Kalauers auf Wahlplakaten („Daham statt Islam“) und von 2017 bis 2019 als angeblich „Bester Innenminister aller Zeiten“ erfolglos um die Wiederaufstellung einer Polizei-Pferdestaffel verdient gemacht hat, nutzte die Nationalratssitzung zu einem Parforceritt auf seinem liebsten Steckenpferd: dem Schwadronieren vom „Asylanten-Grenzsturm“, der über Österreich hereinbreche.

Tatsächlich ist die Zahl der Menschen, die in Österreich einen Antrag auf Asyl stellen, in den vergangenen Wochen stark gestiegen. Ende August summierte sie sich auf 56.149 seit Anfang des Jahres. Das entspricht fast einer Verdreifachung gegenüber 2021 – mithin ein perfekter Sturm kurz vor der Wahl des österreichischen Bundespräsidenten am Sonntag, bei der dem Kandidaten der FPÖ, einem Herrn Dr. Rosenkranz, nur geringe Chancen prognostiziert werden. Kein Wunder also, dass Kickl die Sturmglocken läutet.

Aber man sollte sich nicht täuschen. Seit Jahr und Tag lebt die FPÖ prächtig davon, sich als Anwalt der Kurzsichtigen, Kleingeistigen und Engherzigen aufzuspielen. Aus der Vielzahl globaler Probleme greift sie eines heraus, bläst es ins Gigantische auf und posaunt herum, Migration sei der fünfte Reiter der Apokalypse. Dabei lasse sie sich ganz einfach „verhindern“: mit Stacheldraht und Blei.

Mit dem alten Lied stoßen Kickl und sein blauer Verein auch heute nicht auf taube Ohren. Zwar wird die steigende Zahl der Asylanträge das fehlende Charisma ihres Kandidaten für das Präsidentenamt nicht aufwiegen. Würde jedoch stattdessen in Österreich am Sonntag der Nationalrat gewählt, erhielte die FPÖ voraussichtlich mehr als zwanzig Prozent der Stimmen.

Um Bedrohungsfantasien, Gewalt und ihre Folgen geht es auch im neuen Buch meines Kollegen, des Historikers Hans Woller: „Jagdszenen aus Niederthann“. Hans erzählt darin eine Geschichte, die sich vor fast genau fünfzig Jahren in Oberbayern ereignet hat, in einem kleinen Weiler der Holledau, dem großen Hopfenanbaugebiet nördlich von München. Da feuerte ein Nebenerwerbslandwirt aus einem Kleinkalibergewehr vier Schüsse auf eine Gruppe von Mädchen ab. Die fünf nach damaligem Recht minderjährigen Mädchen hatten kurz zuvor unerlaubt – aber unbewaffnet – sein Haus betreten und waren bereits wieder am Wegrennen, als der Mann von hinten auf sie abdrückte.

Zwei Kugeln trafen Anka Denisova, 18 Jahre alt und im sechsten Monat schwanger. Die Mutter von zwei kleinen Kindern verblutete an Ort und Stelle. Milena Ivanov überlebte, ebenfalls von zwei Schüssen getroffen, nach einer Notoperation. Sie und die anderen drei Mädchen waren nach Aussage ihrer Verwandten auf der Suche nach Menschen gewesen, die ihnen Lebensmittel verkauften. Alle fünf waren Romnja.

Die zum Tatort gerufenen Polizeibeamten nahmen die Mädchen wegen Verdachts auf Einbruch und Diebstahl fest, verhörten den Todesschützen als Zeugen und rieten ihm, sich zu verstecken, waren sie doch überzeugt, dass ihm nun „Blutrache“ drohte. Seinen Hof stellten sie vorsorglich unter Polizeischutz. Im Dorf ging fortan die Angst um vor der „Zigeuner-Rache“, und die Münchner Abendzeitung titelte „Zigeuner erklären Bauern den Krieg“. In den Augen seiner Nachbarn hatte der Schütze bloß recht getan, indem er sein Eigentum mit der Waffe gegen „diese Weiber“ verteidigte. Der Pfarrer auf der Kanzel sprach den Schützen von jeder Schuld frei, und der Bürgermeister wusste seine Partei hinter sich, wenn er schimpfte, es sei eine „Sauerei“, „dass ein anständiger Gemeindebürger wegziehen muss wegen dem Gesindel“.

So leicht kam der Täter am Ende nicht davon, aber nicht weil die Verwandten der Opfer ihm etwa den „Krieg“ erklärt oder gar „Blutrache“ geschworen hätten, sondern weil ein Münchner Staatsanwalt die bayerische Polizei daran erinnerte, dass das Gesetz auch das Leben von Roma schützt, und weil ein prominenter Rechtsanwalt, Rolf Bossi, sich des Falles öffentlichkeitswirksam annahm.

Die gerichtliche und mediale Auseinandersetzung um die tödlichen Schüsse in Niederthann sollte Jahre dauern und dazu beitragen, das Bild, das viele Deutsche von den Roma, aber auch diese selbst von sich hatten, zu verändern. Seit Jahrhunderten ausgegrenzt, im Dritten Reich zu Hunderttausenden ermordet, nach dem Krieg weiter diskriminiert, begannen deutsche Sinti und Roma, aufgeweckt von den Schüssen in Niederthann, um ihre Bürgerrechte zu kämpfen.

Diese Geschichte, vor fünfzig Jahren geschehen und dennoch erschreckend aktuell, erzählt Hans Woller in seinem Buch eindringlich und mit großer Empathie.

Hans Woller, Jagdszenen aus Niederthann

Wunder für die Augen: Islamische Weltkarten

Veröffentlicht am 26. April 2021

Es soll noch heute Menschen geben, die glauben oder behaupten, die Erde sei eine flache Scheibe – eine Vorstellung, die fälschlicherweise oft pauschal dem Mittelalter in die Holzpantinen geschoben wird. In Wahrheit geriet die antike Theorie einer sphärenförmigen Erde nie in Vergessenheit. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert war sie in Europa allgemeines Bildungsgut, zumindest in Kreisen, die sich für solche Dinge interessierten, das heißt vor allem unter Theologen und Seefahrern.

Weltkarte des Juan de la Cosa (1500)
Bild: Kimon Berlin, user:Gribeco, via Wikimedia Commons

Eine andere Frage war allerdings, wie man sich die Erdoberfläche im ganzen vorzustellen hatte, wie Land und Wasser auf ihr verteilt waren. Sich davon ein Bild zu machen, war naturgemäß schwierig in einer Welt, in der es keine Fluggeräte, geschweige denn Erdbeobachtungssatelliten gab und Reisende an Land im Schnitt 30 bis 40, zur See günstigenfalls 150 Kilometer pro Tag zurücklegten. Deshalb staune ich immer wieder darüber, wie sich seit dem späten Mittelalter auf Landkarten ein neues Bild der Erde abzeichnet, auf dem Strich für Strich die Kontinente Konturen gewinnen – Konturen von atemberaubender Gegenständlichkeit, obwohl den Zeichnern ihr Objekt niemals vor Augen stand. Welchen geistigen Kraftakts, welcher Imaginationskraft es dafür bedurfte, ist für die meisten von uns heute kaum zu ermessen.

Die allmähliche Verfertigung eines neuen Weltbilds beim Zeichnen ist keine rein europäische Geschichte. Welchen Beitrag muslimische Gelehrte dazu geleistet haben, ist seit langem bekannt. Muslime wirkten nicht nur als Vermittler geographischen und mathematischen Wissens, sondern ragten auch als Kartografen hervor. So sind wohl allen, die sich für die Geschichte der Kartografie interessieren, die Weltkarten des al-Idrīsī (1154) und des Pīrī Re’īs (1513, Fragment) ein Begriff. Man findet sie zuhauf in Büchern und im Internet abgebildet.

Doch die Karten von al-Idrīsī und Pīrī Re’īs sind prominente Einzelstücke. Sie sind Teil einer reichen Tradition, hervorgebracht von muslimischen Kartenzeichnern des Mittelalters, deren Namen und Werke hierzulande nur den wenigsten bekannt sein dürften. Dass es jedoch lohnt, dieser Tradition Augenmerk zu schenken, beweist der Band „Islamische Karten“ des Londoner Historikers Yossef Rapoport. So wie andere Forscher*innen heute sieht auch Rapoport in den Werken muslimischer Kartenzeichner nicht mehr bloße Zwischenschritte auf dem Weg hin zum modernen Weltbild, sondern einzigartige Schöpfungen des menschlichen Geistes, die ein Studium um ihrer selbst willen verdienen.

Liniennetzplan von Ost-Berlin (1984)
Bild: Wikimedia Commons

Ist der Maßstab für die Qualität einer modernen Karte ihre Gegenständlichkeit, das heißt, wie akkurat, wirklichkeits- und detailgetreu sie die Erdoberfläche darstellt, so verfolgten muslimische Kartografen andere Absichten. Ihnen ging es darum – in Rapoports Worten –, „ein kompliziertes Material zu ordnen“ und damit das Gedächtnis zu entlasten. Die Methode, die sie dafür wählten, war die schematische Darstellung, die geometrische Vereinfachung, die radikale Abstraktion. Ihre Karten waren nicht Ausdruck gelehrter oder theologischer Spekulation, sondern praktisch zu gebrauchende Werkzeuge, die Fernhändlern und Pilgern geholfen haben mögen, ihre Reiserouten zu planen. Man kann sie mit heutigen U-Bahn-Plänen vergleichen, die ein Verkehrsnetz geometrisch stark vereinfacht abbilden und gerade so dem Fahrgast die Orientierung ermöglichen.

Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Weltkarte, die 1272 nach einem Entwurf des Geografen Abū Isḥāq al-Iṣṭakhrī gezeichnet wurde, dann muss man die Eleganz und Kühnheit dieses Entwurfs würdigen. Über al-Iṣṭakhrī weiß man nur, dass er wohl aus dem Iran stammte, in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts tätig war und einen geographischen Traktat mit Karten hinterließ, der ein eigenes literatisches Genre begründen sollte: das „Buch der Wege und Reiche“ (Kitāb al-masālik wa’l-mamālik). Seine zwanzig Regionalkarten ergeben laut Rapoport „einen regelrechten Atlas des Islam“. Die Weltkarte, die al-Iṣṭakhrī dazu zeichnete, sollte den Lesern seines Buchs helfen, die einzelnen Regionen auf der Erde und in ihrem Verhältnis zueinander zu verorten.

Bild: Bodleian Library Oxford / wbg Darmstadt

Süden mit Afrika liegt oben, durchschnitten vom schnurgeraden Nil und von Asien (links unten) durch den Indischen Ozean getrennt. Die Arabische Halbinsel fungiert als Verbindung, während Europa klein und schematisch als dreieckige Insel dargestellt ist, durch das Schwarze und das Mittelmeer vom Rest der Welt separiert. Die drei roten Kreise im Mittelmeer sind die Inseln Zypern, Kreta und Sizilien. Die gesamte alte Welt erscheint eingebettet in das „Umzingelnde Meer“ (Baḥr al-Muḥīṭ), von dem al-Iṣṭakhrī „wie alle mittelalterlichen Gelehrten vor Kolumbus“ (Rapoport) annahm, dass es auch die Rückseite der Erdkugel bedeckte.

[Die kreisförmige Darstellungsform, die typisch ist für vormoderne Weltkarten, kam jüngst übrigens wieder zu Ehren als realistischste mögliche Darstellung einer sphärischen Oberfläche auf einer zweidimensionalen Karte. Nicht nur deswegen mutet ihr Design erfrischend aktuell an.]

Bild: Bodleian Library Oxford / wbg Darmstadt

Ein Beispiel für die Regionalkarten in al-Iṣṭakhrīs „Buch der Wege und Reiche“ ist die des muslimischen Spanien und Nordafrikas. Hier ist Westen oben, also der Atlantik. Spanien ist als Halbkreis dargestellt, von den christlichen Reichen im Norden durch eine Linie abgetrennt. Sie liegen außerhalb der Karte. Achteckig in der Mitte des Halbkreises sitzt die Metropole Córdoba, von der aus Straßen in die verschiedenen Richtungen gehen. Entlang der Küsten sind weitere Städte aufgereiht, im Hinterland Nordafrikas (links) verläuft eine Straße, und ganz am linken Rand, also im Süden, ist purpurn der Sand der Sahara eingezeichnet. Der rote Kreis unten im grünen Mittelmeer ist Sizilien, der lila Berg darüber steht für den Felsen von Gibraltar. Wie gesagt: Der Zeichner wollte kein wirklichkeitsgetreues Abbild des westlichen Mittelmeeres schaffen, sondern ein Netz aus Verbindungen zwischen von Muslimen bewohnten Orten visualisieren. Und seine Karte war in erster Linie für Reisende an Land gedacht, nicht für Seefahrer.

Auf die Spitze getrieben wird die Abstraktion im „Buch der Merkwürdigkeiten der Wissenschaften und der Wunder für die Augen“ (Kitab al-gharāʾib al-funūn wa-mulaḥ al-ʿuyūn), das ein anonymer Autor irgendwann vor 1058 für die Herrscher der Fatimiden-Dynastie verfasste. Es wurde im Jahr 2000 bei einer Auktion in London wiederentdeckt und ist heute im Besitz der Bodleian Library in Oxford. Die Fatimiden beherrschten von Kairo aus weite Teile Nordafrikas, die Levante und Sizilien. Ihr Reich war zum Meer ausgerichtet und gründete sich auf Seemacht, was sich auch im „Buch der Merkwürdigkeiten“ widerspiegelt.

Darin findet sich etwa eine Karte, auf der das Mittelmeer als langgestrecktes Oval konzipiert ist. Der tatsächliche Küstenverlauf ist nicht einmal angedeutet. Entlang der Küste sind punktförmig 121 Häfen und Reeden aufgereiht. Im Meer liegen regelmäßig angeordnet 118 Inseln, die meisten schlicht als Kreise; nur Zypern und Sizilien bilden Rechtecke. Eine Detailkarte von Zypern ist ebenfalls vollkommen rechteckig. Wie Rapoport erklärt, enthalten diese extrem schematischen Karten in ihren Begleittexten dennoch eine Menge an Information, die für die Navigation von Belang war – „mehr als jede andere Karte, die wir vor der Zeit der Kreuzzüge kennen“.

Bild: Bodleian Library Oxford / wbg Darmstadt

Das „Buch der Merkwürdigkeiten“ birgt auch eine Weltkarte, die erste überhaupt in der Menschheits-Geschichte, die mit einem Maßstab versehen ist. Man sieht ihn oben rechts. Die Karte ist rechteckig und stellt nur den Teil der Welt dar, von dem der Autor wusste, dass er bewohnt war. Sonst ist die Anordnung dieselbe wie auf al-Iṣṭakhrīs Weltkarte: Süden ist oben, Europa unten rechts, Asien links. Der braune Halbkreis oben in der Mitte sind die legendären Mondberge, in denen schon Ptolemäus die Quellen des Nils verortet hatte. Wieder stehen rote Punkte für Häfen und Städte. Dazwischen sehen wir Flüsse, Gebirge und links unten eine Mauer: Hinter ihr sollen der Beschriftung zufolge die Völker Gog und Magog eingesperrt sein, die auch der christlichen Apokalyptik bekannt waren und von denen man annahm, dass sie am Ende der Zeiten über die Welt herfallen würden.

„Islamische Karten“ von Yossef Rapoport öffnet den Blick für eine fremde und ferne, zugleich seltsam vertraute Welt. Es ist ein in jeder Hinsicht illustratives Buch: großzügig bebildert, anschaulich geschrieben, und bietet eine gut lesbare, längst überfällige Einführung in die faszinierende Geschichte der islamischen Kartografie.

Zu guter Letzt ein Disclaimer: Rapoports Buch ist im selben Verlag erschienen wie meine Pigafetta-Neuübersetzung. Ich habe vom Verlag kein Rezensionsexemplar erhalten, sondern das Buch selbst käuflich erworben. Da ich von der Lektüre angetan war, stelle ich es auf meiner privaten Internet-Seite vor. Die Bilder hat mir die wbg auf Anfrage freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

1000 Jahre Globalisierung?

aktualisiert am 31. August 2020

Kiwis aus Neuseeland, Ananas aus Costa Rica, Wein aus Chile – man muss nur in den Supermarkt gehen, um zu begreifen, dass wir in einer globalisierten Welt leben. Doch wer meint, Globalisierung sei ein modernes Phänomen, irrt. Fritz Heichelheim, ein aus Nazideutschland vertriebener Althistoriker, erkannte schon bei den antiken Sumerern und Ägyptern vor 5000 Jahren Fernhandelsnetze, die sich von Nordafrika bis ins Innere Asiens erstreckten. Nicht ganz so weit in die Vergangenheit zurück geht Janet Abu-Lughods These vom spätmittelalterlichen „Weltsystem“. Während des Mongolenreiches, also zwischen 1250 und 1350 etwa, habe sich in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Europas ein komplexes Netzwerk kommerziellen und kulturellen Austauschs etabliert. Da wurde Bernstein vom Baltikum bis nach China gehandelt, Elfenbein gelangte von Südafrika auf dem Seeweg nach Indien und weiter nach Ostasien, gefärbte Baumwollstoffe wurden von Indien nach Java exportiert, Porzellan und Seide von China in den Mittleren Osten, Gewürze von den Molukken bis nach Paris und London …

Dass Globalisierung gar nichts Neues sei, ist auch die Botschaft von Valerie Hansens Buch „The Year 1000. When Explorers Connected the World – and Globalization began„. Die in Yale lehrende Historikerin und China-Expertin hat zahlreiche Indizien dafür versammelt, dass Handel und kulturelle Kontakte bereits um die erste Jahrtausendwende sprunghaft zunahmen – und zwar weltweit.

Bild: Simon and Schuster, Inc.

Ihre literarische Tour um den Globus startet Hansen mit den Atlantikfahrten der Wikinger, die bekanntlich um das Jahr 1000 Grönland und das heutige Kanada ansteuerten. Folgt man der Autorin, dann sind die blonden Männer in ihren Langbooten noch ein gutes Stück weiter gekommen, nämlich bis zur mexikanischen Halbinsel Yucatan, wo Hansen sie und ihre Schiffe auf Wandbildern der Mayas identifiziert haben will.

Weil es die Wikinger nicht nur nach Westen trieb, skizziert Hansen anschließend ihre Umtriebe in Osteuropa. Dort reüssierten Skandinavier seit dem 8. Jahrhundert als Sklaven- und Pelzhändler und wirkten wohl auch an der Gründung des ältesten russischen Reiches mit, der Kiewer Rus. Der Sklavenhandel leitet zum nächsten Kapitel ihres Buches über, das sich den Beziehungen zwischen Afrika und der islamischen Welt widmet. Vor allem Bagdad, damals eine Millionenstadt, habe einen solchen Bedarf an Sklaven entwickelt, dass die Zahl der jährlich durch die Sahara verschleppten Menschen in die Tausende ging. Der Menschenhandel zwischen Afrika und dem Mittleren Osten, schätzt Hansen, habe über die Jahrhunderte fast so viele Opfer gefordert wie der transatlantische der Frühen Neuzeit, nämlich an die 12 Millionen.

Gänzlich anders geartet, aber laut Hansen nicht minder massiv waren Migrationsbewegungen, die sich um die erste Jahrtausendwende in Zentralasien abspielten. Der breite Steppengürtel zwischen Ungarn und Nordchina bot den berittenen Kriegern nomadischer Stämme, wie den Seldschuken, ideale Bedingungen, um die angrenzenden Reiche auszurauben oder zu unterwerfen. Nicht selten nahmen die Eroberer nicht nur die irdischen Reichtümer ihrer Opfer an sich, sondern auch deren religiöse Überzeugungen. So sorgten sie für die Ausbreitung des Islam und des Buddhismus in Zentralasien – auch dies eine Form der Globalisierung.

Was in Innerasien Pferde, leisteten auf dem Indischen Ozean Dschunke und Dhau: Die beiden Schiffstypen ermöglichten den Kontakt zwischen Kulturen und Völkern, die tausende Seemeilen entfernt voneinander lebten. Auf ihnen gelangten sowohl gefragte Güter wie Edelmetalle, Seide, Porzellan und Gewürze übers Meer als auch Mönche und heilige Texte. Am dichtesten gewoben war das Handelsnetz ganz im Osten Asiens, rund um die Südchinesische See, weshalb Hansen diese Region mit dem Etikett „The Most Globalized Place on Earth“ versieht. Während in den größten Städten Europas jener Zeit gerade mal ein paar tausend Menschen hausten, reichte die Einwohnerzahl der beiden chinesischen Häfen Guangzhou und Quanzhou bereits an die Million. Hier lebten Chinesen Tür an Tür mit Arabern und Indern, und auf den Märkten war alles käuflich von afrikanischem Elfenbein-Schmuck über in Malaysia gewobene Rattan-Matten bis zu aromatischem Sandelholz aus Timor (laut Hansen allerdings kaum Sklaven).

Weltkarte des Al Idrisi aus dem Jahr 1154.
Bild: Wikimedia Commons

Für ihre Tour d’horizon durch die globalisierte Welt des Jahres 1000 ist Valerie Hansen zu danken. Sie lesend nachzuvollziehen kann unserem auf die Neuzeit fixierten Geschichtsbild und unserem Hang zum Eurozentrismus entgegenwirken. Auch wenn das in manchen Schulbüchern noch immer so steht: Die Globalisierung war keine Erfindung genialer oder – je nach Sichtweise – diabolischer Renaissance-Menschen aus Europa. Sondern ein Prozess, der lange vor 1500 in Gang war und – wie heute auch – von den verschiedensten Akteuren auf der ganzen Welt vorangetrieben wurde. Zweifellos konnten sich die europäischen Imperialisten der Frühen Neuzeit Netzwerke und Kommunikationswege zunutze machen, die sie fast überall auf der Welt vorfanden, von Tidore bis Tenochtitlán.

Dass und warum „die“ Globalisierung aber ausgerechnet um das Jahr 1000 herum begonnen haben soll, kann Hansen in meinen Augen nicht schlüssig begründen. Die meisten Handelsnetze, die sie in ihrem Buch beschreibt, waren um die erste Jahrtausendwende längst geknüpft, einige wie die beiden „Seidenstraßen“, die innerasiatische und die maritime, bestanden schon seit vielen Jahrhunderten. Auch hatten auf der Erde bereits weiträumige Expansionsprozesse stattgefunden, die bis heute nachwirken: von der Verbreitung des Buddhismus in Asien über den Indienzug Alexanders des Großen bis zur explosionsartigen Ausdehnung des Dar al-Islam ab etwa 630 – wohl einer der folgenreichsten Globalisierungsschübe überhaupt. 711 eroberten muslimische Krieger die iberische Halbinsel und 751 besiegten sie in der Schlacht am Fluss Talas, wo heute Kasachstan an Kirgistan grenzt, eine Armee der Tang-Dynastie. Ein in diesem Frühjahr erschienenes Handbuch beschreibt den Grad globaler Vernetzung, den Gesellschaften in Afrika, Asien und Europa bereits im Frühmittelalter (ca. 600-900 n. Chr.) erreicht hatten, also deutlich vor dem Jahr 1000.

Wenig überzeugend finde ich auch, die Fahrten des Wikingers Leif Eriksons nach Neufundland und Labrador (von der höchst spekulativen Präsenz der Nordmänner auf Yucatan ganz zu schweigen) sowie die Besiedlung des Pazifik durch die Polynesier ins Feld zu führen, um die These zu untermauern, die Globalisierung habe um das Jahr 1000 ihren Anfang genommen. Die Pazifik-Besiedlung erfolgte in mehreren Schüben; der letzte begann nach heutigem Wissensstand um 700 n. Chr. und endete gut 500 Jahre später mit der Besiedlung von Aotearoa (Neuseeland). Aber inwiefern stehen die Fahrten der Polynesier mit Migrationsbewegungen in Zusammenhang, die sich im selben Zeitraum anderswo auf dem Globus ereigneten? Da wir nicht wissen, warum sie in See stachen, lässt sich diese Frage allenfalls hypothetisch beantworten.

Jedenfalls waren vor der Neuzeit die meisten pazifischen Inseln einschließlich Papuas und Australiens so wenig in das Handelsnetz der „Alten Welt“ eingebunden wie der amerikanische Kontinent. Es macht eben einen Unterschied, ob eine Handvoll wagemutiger Pioniere den Weg zu fernen Gestaden fand oder ob sie auch den Rückweg meisterten, sodass dauerhafte Kontakte zustandekamen. Die Kanarischen Inseln wurden lange vor Christus von den Guanche besiedelt, doch in den tausend Jahren vor ihrer Eroberung durch Europäer im 14. Jahrhundert unterhielten jene keine Beziehungen zur Außenwelt. Desgleichen lebten die Rapa Nui der Osterinsel, die Chamorros auf Guam und die Maori auf Aotearoa bis zur Ankunft europäischer Seefahrer isoliert, und aus den Fahrten der Wikinger entstanden, anders als aus denen des Kolumbus, keine bis heute andauernden Verbindungen zwischen den Kontinenten. Die Skandinavier gaben ihre Siedlungen auf Grönland um 1400 wieder auf. Es ist daher irreführend, wenn Hansen schreibt, die von Vasco da Gama und Magellan „entdeckten“ Seerouten seien bereits tausend Jahre zuvor befahren worden. Aus Sicht der Globalisierung ist entscheidend, wann auf diesen Routen ein kontinuierlicher, langfristiger Austausch von Menschen, Waren und Ideen in Gang kam. Nach diesem Kriterium sind die Etablierung der portugiesischen Carreira da India nach 1498 und die Einrichtung der Manila-Galeone rund hundert Jahre später, die Amerika mit den Philippinen verband, nunmal Marksteine globaler Geschichte.

Kriegsschiff aus einem Militärhandbuch der Song-Dynastie (frühneuzeitl. Druck nach einer Vorlage des 11. Jhs. n. Chr.)
Bild: Wikimedia Commons

Den Begriff der „Globalisierung“ diskutiert Valerie Hansen in ihrem Buch nicht, sondern umschreibt ihn allenfalls vage:  „This is, when trade routes took shape all around the world that allowed goods, technologies, religions, and people to leave home and go somewhere new.“ Nach dieser Definition hätte die Globalisierung nicht vor tausend, sondern bereits vor 100.000 Jahren begonnen, als die ersten Exemplare der Gattung Homo sapiens ihre afrikanische Heimat verließen, neue Lebensräume erschlossen und bald auch begannen, über längere Distanzen Dinge zu tauschen, wertvolle Steine zum Beispiel, was spätestens für das Jungpaläolthikum belegt ist. Die  Unschärfe ihres Globalisierungsbegriffs schadet nach meinem Urteil Hansens Argumentation. Indem sie nicht nach der Wechselseitigkeit und Nachhaltigkeit der von ihr beschriebenen Kontakte fragt, übetreibt Hansen die schon oft beschworene historische Bedeutung der „mutation d’an mil“ (Dominique Barthélemy 1997) für die globale Geschichte. China mag um das Jahr 1000 der „Most Globalizend Place on Earth“ gewesen sein. Aber es war sicherlich nicht der Startplatz, von dem „die“ Globalisierung ihren Ausgang nahm. Von der Hochblüte der Song-Dynastie führte kein ununterbrochener historischer Pfad zu den Expansionsprozessen des 15. und 16. Jahrhunderts. An diesen nahm China, jedenfalls bis 1567, nicht aktiv teil.

Nun müssen in einer globalisierten Welt auch Bücher darum wetteifern, wahrgenommen und gekauft zu werden. Eine zugespitzte (wenn auch keineswegs ganz neue) These mag dabei helfen. Den nicht ganz uninformierten Leser freut sowas weniger. Aber trotz seiner begrifflichen Schwächen sei das Buch zur Lektüre empfohlen, zum einen wegen der Fülle des darin ausgebreiteten Materials, zum zweiten wegen der Zusammenhänge, die es herstellt, zum dritten weil es als Antidot gegen allzu bornierte Geschichtsbilder wirken kann (s.o.):

Valerie Hansen, The Year 1000. When Explorers Connected the World – and Globalization began. Simon and Schuster, New York 2020.

Update: Eine deutsche Übersetzung von Hansens Buch ist für September 2020 angekündigt.

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